Ralph Dutli - Die Liebenden von Mantua

Am 5. Februar 2007 werden in Valdaro, einem Vorort von Mantua, zwei Skelette gefunden, die in inniger Umarmung 6000 Jahre in der Erde zugebracht hatten. Es handelt sich um einen Mann und eine Frau, beide um die zwanzig Jahre alt.

Das Foto geht um die Welt, und schnell ist ein Name gefunden: die Liebenden von Mantua

 

Da Verona nicht weit ist, nennt man sie auch 

Romeo und Julia der Steinzeit. Endlich scheint ein Beweis

für die Unendlichkeit der Liebe gefunden.

 

"Eine sehr seltene Grablege, Kollektivbestattungen waren häufig, Einzelgräber gab es viele, aber nicht diese phänomenale Zweisamkeit. Die Gesichter einander zugekehrt, man glaubt ihr Lächeln zu sehen, zärtlich schützende Arme um den anderen gelegt, die Schenkel gekreuzt, ineinandergeschoben."

 

Am 20. Mai 2012 erschüttert ein Erdbeben die Region um Mantua schwer. Es gibt nicht nur Schäden an Gegenständen, es gibt auch Tote und Verletzte, Tausende werden obdachlos.

 

Dieser Frühling geht als die maledetta primavera (der verfluchte Frühling) ins Gedächtnis der Menschen ein.

Denn das Erdbeben ist nur ein weiteres Ereignis, das die bestehende politisch-soziale Krise dieser Jahre verstärkt.

 

Ein Jahr nach dem Erdbeben treffen sich zwei alte Freunde zufällig auf der Piazza vor der Basilika Sant´ Andrea wieder.

Raffa, ein auf Krisengebiete spezialisierter Journalist, und Manu, ein Schriftsteller.

Sie lebten zusammen in Paris, liebten die selbe Frau, sie verloren sich aus den Augen.

Raffa ist wegen des Erdbebens gekommen, Manu will einen Roman über die Liebenden von Mantua schreiben.

Er möchte sie in den Mittelpunkt eines Romans über die Liebe selbst stellen, diese beiden Liebenden, die "ihre ureigene Liebesutopie" der verblüfften Welt vorführen.

 

Das Paar hätte im Archäologischen Museum ausgestellt werden sollen, doch es ist bis zu diesem Tag im Mai 2013 nicht dort angekommen. Es ist verschwunden.

So jedenfalls in Dutlis Roman.

 

Und schon am folgenden Tag, Raffa und Manu haben sich nachmittags in einem Café verabredet, ist auch Manu verschwunden. Weg, vom Erdboden verschluckt.

 

Raffa macht sich auf die Suche. Das einzige, was er findet,

ist eine junge Frau, Lorena, eine Archäologin, die in dem Hotel jobbt, in dem Manu wohnte. Bezüglich Manu kann sie ihm nicht helfen, aber sie führt Raffa in den Palast der Gonzaga, der (neben anderen ) von Andrea Mantegna,

einem der maßgeblichen Maler der Renaissance, im

15. Jahrhundert ausgemalt wurde. 

 

So entwickelt sich ein Strang des Romanes mit der Feier der Schönheit, der Lust und Erweckung des Lebens durch die Italienische Renaissance. Raffa und Lorena, die ein Paar werden, was aber letzten Endes eine Verwechslung ist,

die wiederum auf Wunschdenken beruht, spiegeln in ihren Erlebnissen und Gefühlen das Erdbeben, das die Kunst und die Liebe damals und heute auslösen können.

 

Träume und Wünsche, Spiegelungen, eine wandernde und schließlich verschwindende Bibliothek, übersteigerter Egoismus und Wahnvorstellungen, die auch vor Mord nicht Halt machen, sind die anderen Ingredienzen des Romanes.

Denn Manu wurde von einem dubiosen Grafen in dessen Villa unweit der Stadt entführt.

 

Der Conte Ignoto beauftragt ihn damit, eine neue Religion zu erfinden. Eine, in deren Mittelpunkt die Liebe steht, und nicht der gefolterte Gekreuzigte, mit der im tiefsten Grunde kannibalistischen Idee des Abendmahls.

 

"Eine Ikone des Schmerzes, dieser größten Zumutung, die der Weltenschöpfer sich hat einfallen lassen ... soll eine Religion der Liebe sein? Mit dem Bild des gefolterten Menschenkörpers als umfassendem Symbol? Wo ist die Liebe? Aufgehängt, durchbohrt von dicken Eisennägeln,

den hungrigen Vögeln zum Fraß aufgestellt? ... 

Ich suche nach einer neuen Religion und einem neuen Symbol, das dieses ewige Folterbild aus der Welt fegen soll. ... Und welches Symbol könnten Sie denn als Urbild einer neuen Religion anerkennen? Ich kenne nur eines:

die Liebenden von Mantua."

 

Manu ist ein Gefangener des Mannes, der auch die Skelette zu sich geholt hat, um sie jeder Zeit vor Augen zu haben.

Um sie nicht den Gaffern auszusetzen, die die Museen bevölkern. Manu nimmt sein Abendessen zusammen mit seinem Entführer ein, dieser spricht ausführlich und ohne Widerspruch zu dulden über Religion. Über die Geschichte der Religionen(en), deren Gewalttätigkeit, deren Unterdrückung der Lust und Freude.

 

Manu begibt sich tief in die Bibliothek des Conte. 

Er gräbt sich ein in philosophische, alchimistische und mythologische Werke. Er denkt wach darüber nach, er träumt davon in der Nacht. Er entwickelt eine Theorie des Romans an sich, er berichtet von sich selbst als Schriftsteller.

Er denkt nach über den Zufall, die Macht der Bilder,

er beobachtet eine schöne Frau beim Schwimmen.

Wie sich später herausstellen wird ist sie die Zwillingsschwester Lorenas, die für den Conte arbeitet.

Die aber eine andere Vorstellung von Freiheit hat als dieser.

 

Ralph Dutli hat viel hineingepackt in seinen Roman.

Stellenweise liest er sich wie ein Essay zu den oben genannten Themen. Er schreibt aber so lebendig und leidenschaftlich, die Handlung um Raffa, Manu, Lorena und den Conte gerät auch nie ganz aus den Augen, dass es eine Freude ist, ihm auf diesen verzweigten Pfaden zu folgen.

 

Er weckt die Lust, sich in das Mantua der Renaissance zu begeben, und sei es nur mit Hilfe von Bildern und Fotographien. Man will es sehen, das "Zimmer der Vermählten" Mantegnas, man möchte die Stimme Vergils vernehmen, der um 70 v. C. bei Mantua geboren wurde und hier natürlich ebenfalls thematisiert wird.

 

Am Ende sitzen Raffa und Manu wieder zusammen

auf der Piazza Mantegna und lassen Revue passieren.

So vieles, was völlig unwahrscheinlich war, ist passiert.

"Der Wirklichkeit selbst sind die Pferde durchgegangen.

Sie selbst hat die Zügel schießen lassen", heißt es in diesem letzten Kapitel.

Dutli hat seiner Phantasie freien Lauf gelassen und einen Roman geschaffen, der viele weit auseinander liegende Punkte in eine Geschichte gewoben hat.

Der Ausgangspunkt ist ein ganz realistischer, er hat daraus einen Traum gemacht.

 

 

 

 

 

 

 

 

Ralph Dutli: Die Liebenden von Mantua

Wallstein Verlag, 2015, 276 Seiten