Najat El Hachmi - Eine fremde Tochter

Dies ist die Geschichte eines marokkanischen Einwandererkindes in Spanien. Die kleine Familie besteht aus der namenlosen Tochter und ihrer Mutter. Mit zehn Jahren kam sie nach Spanien, Mutter und Tochter folgten dem Vater, doch sie mussten schmerzhaft erfahren, dass der bereits eine neue Familie hatte. 

 

Fast neunzehn ist sie nun, sie hat ein glänzendes Abitur abgelegt, könnte studieren. Sie hat die Sprache so gut gelernt, dass sie mit katalanischem Akzent spricht. Sie trägt kein Kopftuch. Ihre größte Sorge: es der Mutter recht zu machen.

Diese ist damit beschäftigt, den Lebensunterhalt der beiden zu verdienen, mit putzen, backen und anderen Arbeiten, die nicht gut bezahlt werden. Sie leben in einer alten Wohnung, eine bessere können sie sich nicht leisten.

 

Die Tochter hat keinen Namen. Sie beschreibt in der Ich-Form ihr Leben, das die Geschichte vieler Mädchen aus Einwandererfamilien spiegelt, die nicht nur von den Eltern, sondern von der ganzen marokkanischen Gemeinde beäugt werden.

 

Um dieser ständigen Aufsicht - kann eine alleinerziehende Mutter eine anständige Tochter haben? - zu entkommen, entschließt sie sich, zu heiraten. Studieren und arbeiten kann sie trotzdem, meint sie.

 

"Ich blicke mir in die Augen und wiederhole es: Heirate, und du bist frei. Heirate, und deine Mutter ist frei."

 

Diesen Gedanken wiederholt sie immer wieder, macht sich selbst Mut. Glaubt vielleicht wirklich daran.

Sie heiratet ihren in Marokko lebenden Cousin, Sohn des Bruders ihrer Mutter.

Er ist somit kein Unbekannter, sie mochte ihn immer und sie wird damit nicht Teil einer neuen Familie, bei der sie nicht weiß, was sie erwartet.

 

Die Hochzeit wird auf zwei Kontinenten geschlossen, der wichtige Part, die Feier mit der anschließenden Hochzeits-nacht findet in Marokko statt. Mit einer gnadenlosen Ernüchterung. 

 

Najat El Hachmi beschreibt die Zeremonie, die Bräuche, das Verhalten der anderen Frauen, ihr Befremden ob dieser Fixierung einer Gesellschaft auf das Sexuelle, in der Sexualität sonst ein absolutes Tabu ist, "... und die zum anderen dieses obszöne Fest begeht, bei dem alle auf den Koitus des Braupaares hinfiebern, um dann die erhoffte frohe Kunde, dass die Braut eine unbefleckte Jungfrau gewesen sei, ganz groß und inklusive Feuerwerk zu feiern."

 

Sie kehrt mit ihrem Ehemann zurück nach Spanien.

Der Alltag beginnt, in der Wohnung der beiden Frauen mit einem Cousin-Ehemann, der sein altes Leben weiterlebt, ohne den geringsten Beitrag zu leisten. Wie ein Pascha oder "Parasit" hält er es für normal, nichts zu tun. 

 

Mutter und Tochter arbeiten, die Tochter mittlerweile als Reinigungskraft in einem Priesterseminar, das Studium ist in weite Ferne gerückt. Und dann kommt auch noch der Wunsch des Ehemannes auf, sie möge ein Kopftuch tragen...

 

Die Hoffnung, mit der Heirat sich selbst und ihre Mutter zu befreien, hat sich in keiner Weise erfüllt.

Und die Erzählerin spürt immer deutlicher, wie weit von der Welt der Mutter, der ganzen Familie, sie sich entfernt hat - wenn sie überhaupt jemals dazu gehörte.

 

Die Autorin, selbst Tochter marokkanischer Einwanderer, beschreibt in ihrer Geschichte nicht nur den Alltags-rassismus, die Schwierigkeiten, eine Wohnung zu finden, die kläglichen Jobangeboten auch wenn das Zeugnis noch so gut ist, die Blicke der Männer auf die exotisch anmutenden Frauen, das endlose Geschnatter der Freundinnen ihrer Mutter, das ihr so sinnlos erscheint, sondern auch die halbherzigen Integrationsversuchen seitens der Stadtverwaltung - und vieles mehr.

 

Immer wieder spricht sie über Sprache, Wörter, Lesen und Lernen. Sie spürt, wie ihre Bildung sie wegträgt, spürt, dass sie niemals in der Lage sein wird, "so zu denken wie eine Analphabetin." 

 

"Je gründlicher ich mir das Lesen abgewöhne und vergesse, was ich aus den Büchern gelernt habe, von den Wörter, von den Texten - je gründlicher ich all das abstreife, umso leichter wird es mir fallen, mich in mein neues Leben zu fügen. ...

Das Wichtige ist, die Wahl zu haben, sagten sie mir, aber in meinem Fall ist daraus eine Katastrophe geworden. Ich traf meine Wahl, um die Dinge leichter zu machen, um zu versöhnen, um die Welt meiner Mutter und meine eigene Welt in Einklang zu bringen. ... Je weiter ich mich von den Wörtern entferne, desto ähnlicher kann ich meiner Mutter werden."

 

Doch der Kopf lässt sich nicht ausschalten.

 

Der Roman beginnt mit den Fluchtgedanken der jungen Frau. Sie hat ihren Rucksack gepackt, sie hat ein Bahnticket. Sie steigt ein in den Zug, der sie in die Freiheit bringen soll. 

Doch sie beschließt, "beim nächsten Halt wieder aus dem Zug zu steigen, den Bahnsteig zu wechseln und auf einen anderen Zug zu warten. Um nach Hause zurückzukehren, was in der Sprache meiner Mutter auch ein Wort für sterben ist."

 

Diesen Spannungsbogen hält Najat El Hachmi bis zum Ende des Romans. Da der Gedanke an Flucht gesät ist, bleibt stets die Frage im Hinterkopf, ob sie es schaffen wird oder nicht.

Es schaffen, das bedeutet auch eine Einwilligung in die Einsamkeit. Und beinhaltet das Wissen, ihre Mutter zurückzulassen in einer Gemeinschaft, die sie für ihre Tochter missachten wird. 

 

Najat El Hachmis Texte kreisen um die Themen Identität, kulturelle Verwurzelung, Entfremdung.

Es gelingt ihr außerordentlich gut, die Zerrissenheit ihrer Heldin zu fassen, die LeserInnen an ihren Kämpfen teilhaben zu lassen. Die Verknüpfung von Innen-und Außenwelt, die Konflikte, die die Erzählerin mit sich selbst austrägt und jene, die gesellschaftlichen Ursprungs sind, der Zwist zwischen den Wünschen des Individuums und den Erwartungen der traditionell lebenden Gemeinschaft wie auch der modernen Welt verdichten sich in der jungen Frau, die auch die Frage stellt: wie frei und tolerant ist die westliche Welt wirklich? 

 

Ein psychologisch sehr feinsinniger, das große Ganze nach-vollziehbar beleuchtender Roman, der nicht ausspart, welch strikte Vorgaben und Erwartungen auch unsere offene Lebensweise in sich trägt, eindringlich erzählt - der Roman ist ein Fenster, ein gelungenes Werk der Aufklärung.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Najat El Hachmi: Eine fremde Tochter

Aus dem Katalanischen von Michael Ebmeyer

orlanda Verlag, 2020, 232 Seiten