Sabine Friedrich - Immerwahr

Dr. Clara Haber, geborene Immerwahr, war die erste Frau, die an der Universität Breslau promovierte,

und zwar in Chemie. Die Tochter eines Chemikers, 1870 in Polkendorf bei Breslau geboren, musste hierfür viele Hürden nehmen, viel Spott erdulden und große Dankbarkeit zeigen.

Um überhaupt an die Universität zu gelangen, besuchte sie Privatschulen, legte externe Prüfungen ab, sie musste für jedes Semester erneut die Genehmigung des "königlichen Universitäts- kuratoriums" einholen. Diese musste den Professoren vorgelegt werden, mit deren Erlaubnis konnte sie die Vorlesungen besuchen. Sofern die männlichen Kommilitonen nichts dagegen hatten.

Kein einfacher Weg also, doch Clara schafft es.

 

Mit dreißig ist sie Dr. phil., eine Wissenschaftlerin. 

"Eine der ersten drei oder vier, die deutsche Universitäten überhaupt hervorgebracht hatten."

Nach der Promotion ist sie Laborassistentin bei ihrem Doktorvater Professor Abegg.

"Das war ernstzunehmen. Hier arbeitete sie immerhin einem Mann zu. Richard Abegg beschäftigte sie auf eigene Verantwortung. Natürlich ohne Gehalt: die Universität unterstützte keine Frauen in akademischen Berufen, aber es zwang Clara ja auch niemand zu ihrer Tätigkeit. Wenn ihr die Bedingungen nicht zusagten, konnte sie ihren Platz jederzeit wieder räumen, für einen braven jungen Mann. Das sagte Onkel Wilhelm. Da gehen sie hin, diese modernen Frauen, und nehmen irgendeinem braven jungen Deutschen seine Arbeit weg."

 

Damit ist das erste Themenfeld umrissen: Frauen an deutschen Universitäten (im europäischen Ausland sah es zu dieser Zeit schon anders aus), ihr Kampf um Aufnahme, Akzeptanz und Anerkennung ihrer Leistungen.

 

Clara ist intelligent, sie erfährt Unterstützung von ihrem Vater und ihrem Doktorvater, aber zu sehr hat sie den Gedanken, dass ihr das alles eigentlich gar nicht zusteht, verinnerlicht. Ohne weiteres ist sie bereit, sich unterzuordnen, ihre Wünsche zurückzustellen und ihre

Rolle als Frau auszufüllen. Es ist keine Frage, dass sie den Vater pflegt, nachdem die Mutter verstorben ist.

Das bedeutet, sie führt ihm den Haushalt, anstatt Vorträge zu halten oder im Labor zu sein.

 

Als sie neunzehn ist, hält der zweiundzwanzigjährige Fritz Haber um ihre Hand an. Er ist zu diesem Zeitpunkt schon promovierter Chemiker. Sie lehnt ab. Sie liebt ihn nicht,

die Ehe ist für sie keine natürliche Notwendigkeit, sie träumt von anderem.

Zehn Jahre später akzeptiert sie seinen erneuten Antrag und wird Frau Professor Dr. Haber. Der Traum: eine gemeinsame wissenschaftliche Arbeit zum Wohl der Menschheit.

Denn dafür ist die Wissenschaft in Claras Augen da, sie soll das Leben der Menschen verbessern.

 

Das Paar lebt Karlsruhe, wo Fritz Haber außerordentlicher Professor an der Technischen Hochschule ist.

Von 1901 bis 1910 lebt die Familie dort, schon ein Jahr nach der Hochzeit kommt der Sohn Hermann zur Welt.

 

Sowohl Fritz als auch Clara sind getaufte Juden. Aber in Deutschland ist zu dieser Zeit auch ein getaufter Jude ein Jude - dies ist der Grund dafür, dass Haber keine ordentliche Professur erhält, obwohl er sehr erfolgreich arbeitet.

Claras Vater ist jedenfalls sicher: "Der Antisemitismus war eine heilbare Krankheit: ein letztes Aufflackern der alten Judenfeindschaft, das bald erlöschen und dann endgültig verschwinden würde..."

 

Fritz Haber verkörpert sämtliche preußischen Tugenden in sich. Er arbeitet von früh bis spät, ist kaum noch zu Hause, Frau und Kind werden ihm fremd.

Spätestens als die Familie 1910 nach Berlin zieht, wo Haber Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Physikalische Chemie wird, wird offensichtlich, dass die Ehe nur noch nach außen existiert.

 

In all den Jahren hat Clara die Hoffnung nicht aufgegeben,

an der Seite ihres Mannes als Wissenschaftlerin tätig zu sein. Doch die Pflege des Kindes, die Verantwortung für den Haushalt (was immer auch unangemeldete Gäste bedeutete, für die Mahlzeiten bereitgehalten werden mussten),  eine instabile Gesundheit und vor allem der Geist der Zeit verhindern dieses.

 

In Friedrichs Roman ist exemplarisch der Konflikt dargestellt, der sich in Clara abspielt: die Erwartungen, 

die an sie herangetragen werden, die Forderungen der Gesellschaft und der Zeit stehen ihren eigenen Wünschen entgegen. Doch stets sucht sie bei sich den Fehler, bzw redet sich ein, sie würde gerne kochen und backen, nur sie könnte das oft kranke Kind versorgen, nur sie weiß, wie Fritz´ Koliken zu kurieren sind.

In ihrem Inneren spielt sich das Drama der intelligenten, gebildeten und an Fortschritt glaubenden Frau ab, die nicht ernst genommen wird. In dem Sinne, dass ihre Ausbildung nicht als Befähigung gesehen wird, etwas anderes zu tun als das, was alle Frauen tun: für die Familie da zu sein und nebenbei wohltätig zu sein.

 

Der Roman ist eine lange Abfolge von Erinnerungen.

Es ist der 1. Mai 1915. Clara steht am Fenster ihres Zimmers und schaut in den Garten, an dessen anderem Ende das Institut liegt, hinunter. Unten sind Gäste, man feiert die Erfolge Fritz Habers an der Westfront, am nächsten Tag wird er an die Ostfront reisen. Mittlerweile ist er Offizier.

Sie kamen nicht mehr drum herum ihn dazu zu ernennen.

Clara steht also da, schaut hinaus und lässt ihr Leben Revue passieren.

"Clara sollte wirklich hinuntergehen. Sie sollte sich ihren Pflichten stellen: den Empfang organisieren, überprüfen,

ob Martha das Silber poliert hat, ob die Hummermayonnaise vom Delikatessengeschäft Kempinski abgeholt und im Weinkeller kalt gestellt worden ist. Hummermayonnaise,

im Frühling 1915?"

 

Man feiert den erfolgreichen Einsatz von Kampfgas, das nach dem von Haber entwickelten Verfahren hergestellt wurde.

In Ypern hat es wunderbar funktioniert, Fritz Haber ist auf dem Gipfel seines Ruhmes angekommen.

Und er hat glänzend verdient, denn er hat gut kooperiert mit BASF, Bayer und Agfa. Auch die Unternehmen haben bestens verdient mit dem todbringenden Stoff.

 

Als die Gäste weg sind, geht Clara hinunter zu Fritz, setzt sich in den Sessel und versucht mit ihm zu sprechen.

Versucht, ihn daran zu erinnern, dass Wissenschaft betreiben einst für beide bedeutete, das Leben der Menschen zu verbessern. Praktische Anwendungen ja, kein Forschen um des Forschens willen, aber Kampfgas?

 

Sie hatte ihn schon vorher kritisiert, nun geht sein ganzer Zorn auf sie nieder. Er wirft ihr vor, ihm in den Rücken gefallen zu sein, 

"Weißt du überhaupt, was du getan hast? Mit deinem verfluchten Gerede hast du das Vertrauen des Militärs in mich erschüttert, sie haben mir nicht geglaubt! Und wie auch? Wer soll mir glauben, wenn mein eigenes Weib mir nicht glaubt und das auch noch lauthals verkündet? Was hast du denn den Generalsgattinnen in Köln-Wahn erzählt?

Was hast du hier herumtrompetet, landauf und landab durch die Straßen Dahlems? Du bist mir in den Rücken gefallen. Dem Vaterland bist du in den Rücken gefallen, du bist am Tod Unzähliger schuld. Du bist schuld, wenn die Kämpfe nun weitergehen, wenn das Sterben weitergeht, wir waren aus den Gräben heraus! Und nun geht es wieder hinein."

 

Schließlich spricht er das Wort aus, das tödlich ist wie eine Kugel: "Vaterlandsverräterin!"

Clara reagiert wie immer: sie glaubt ihm.

"Fritz hat recht. Sie ist eine Vaterlandsverräterin.

Sie hat alles verraten: Mann, Kind, Familie und Land.

Alle, denen sie Gefolgschaft schuldet."

 

Clara steht vor der Wirklichkeit wie vor einer schwarzen Wand. Es kann nichts zurückgenommen und ungeschehen gemacht  werden, es gibt keinen Neuanfang.

Nicht in ihrer Ehe, nicht in ihrem Leben.

Es gibt nur noch das Ende.

Clara nimmt Fritzens Dienstwaffe und erschießt sich im Garten der Villa. Am 2. Mai 1915 endet ihr Leben.

Fritz folgt unmittelbar nach ihrem Tod seinem Stellungsbefehl und geht nach Galizien.

 

Antisemitismus, die Rolle der Frau und Frauenfeindlichkeit, gesellschaftliches Denken und Leben, anerzogene Unterwürfigkeit und Selbstzweifel, die Geschäfte großer Unternehmen, das Wegwerfen alter Ideale, das Ringen um Ehre (das Fritz Haber ebenso verinnerlicht hat wie Clara Immerwahr ihre Selbstzweifel), die Mechanismen, die eine freie Entwicklung des Menschen verhindern - dies alles hat Sabine Friedrich in ihrem Roman zur Sprache gebracht.

 

Durchgängig hat sie Zeilen aus Liedern und Gedichten eingestreut, Bruchstücke aus Sprichwörtern, die Clara immer wieder durch den Kopf gehen. Es sind sehr schöne Verse darunter, aber auch Marschmusik oder todessehnsüchtige Symbole. Sie gestalten eine Art Hintergrundmusik, die das Auf und Ab Claras abbilden. Und all die Fremdkörper in ihrem Geist.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Sabine Friedrich: Immerwahr

dtv, 2013, 224 Seiten