Natalia Ginzburg - Die Stimmen des Abends

Die erste Szene des Romans beschreibt, wie die Ich-Erzählerin Elsa und ihre Mutter vom Arzt kommen.

Sie begegnen diesem und jenem, die Mutter plaudert kurz, sinniert dann wieder über ihre Gesundheitsprobleme und kommt auf den Arzt zu sprechen.

"Ist er Junggeselle? - Sofort verheiratete meine Mutter mich in Gedanken mit dem Arzt." Denn: "Der größte Kummer meiner Mutter ist, dass ich noch nicht verheiratet bin."

 

Elsa gibt nicht viel preis von sich. Weder erfahren die LeserInnen ihre Gedanken oder Vorlieben, noch welchen Beruf sie ausübt. Lediglich so viel: "Ich bin siebenund-zwanzig Jahre alt. ... Ich ging in der Stadt auf die Universität. ... Ich promovierte in Literatur." Danach kehrte sie in ihr Dorf zurück.

 

Sie lebt wieder bei den Eltern. Ihr Vater ist "Notar der Fabrik.

Das ganze Dorf lebt von der Fabrik. Die Fabrik stellt Stoffe her."

"Ich gehe unter dem einen oder anderen Vorwand ein- bis zweimal in der Woche in die Stadt."

 

Dort trifft sie Tommasino. Er lebt im gleichen Dorf wie Elsa, dort meiden sie einander. Tommasino ist der jüngste Spr0ss der Fabrikbesitzerfamilie Balotta, der wichtigsten Familie des Dorfes also.

 

Bevor die LeserInnen Tommasino etwas näher kennen

lernen, begegnen sie seinem Vater, dem sozialistischen Fabrikbesitzer, und seinen vier Geschwistern. 

Natalia Ginzburg entwirft mit diesen Figuren und ihren Lebensgeschichten nicht nur mit feinem Humor  gezeichnete Persönlichkeiten, sie beschreibt damit die Entwicklungen in einem Dorf über zwanzig Jahre hinweg.

 

Von den 1930ern bis in die 50er hinein begleitet sie die Balottas, die alle "auf irgendeine Weise verschroben" sind, beschreibt ihre Erfahrungen während des Faschismus, im Krieg und der Nachkriegszeit.  

Dies alles auf engstem Raum, prägnant, wie nur Natalia Ginzburg es kann. Sie ist die Meisterin des Understatement. 

Die kurzen Sätze, die scheinbar einfache Sprache und die Konzentration auf das Naheliegende sind so gekonnt, dass man immer wieder kurz innehält, um zu begreifen, wie viel in diesem lakonischen Stil steckt. 

 

Der Roman entwickelt sich in einem Duett Elsas, die in der Ich-Form sachlich und nüchtern von sich berichtet, und dem Erzähler, der von allen anderen Figuren, dem Dorf, dem allgemeinen Geschehen, erzählt. 

 

Von den Treffen mit Tommasino in dem gemieteten Zimmer in der Stadt und ihren Gesprächen erzählt Elsa etwas ausführlicher, doch stets diskret. Es entsteht ein Bild zweier Menschen, die sehr unterschiedlich sind, und sehr ehrlich. 

Nachdem sich ihre Beziehung grundlegend geändert und dann noch einmal eine ganz unerwartete Wendung genommen hat, sagt Tommasino:

 

"Es war aber ein Gefühl, tief und zart, und frei. Wir waren auf unsere Weise glücklich in der Via Gorizia, wir beide, allein, ohne Pläne für die Zukunft, ohne irgend etwas. Es war in sehr zartes Gefühl, sehr zerbrechlich und bereit, sich beim ersten Windstoß aufzulösen."

 

Für kurze Zeit hatten sie versucht. die Erwartungen der anderen zu erfüllen. Dafür hatten sie ihre Freiheit aufgeben, "Gedanken begraben" müssen. Diese Tragik, das Erlöschen der inneren Stimme, erleben Elsa und Tommasino. 

 

Natalia Ginzburg leuchtet das Innere dieser Figuren nicht psychologisch aus, sie zeigt es am Verhältnis der beiden zueinander und zur Welt. 

Im Falle Elsas auch zu ihrer Mutter. Klaglos nimmt sie deren Monologe wahr und hin, deren Kommentare und Plaudereien von Nichts, diese Stimme, die immer mit "sie sagte:" eingeleitet wird, die wie ein Hintergrundrauschen den Roman durchzieht, die Stimme der Alltagsmenschen. 

 

Ihr gebührt auch das letzte Kapitel des Romans, er endet mit den Worten: "Wer weiß, ob sie in der Apotheke von Cignano die Mittel haben, die ich für meinen Blutdruck brauche?"

Damit schließt sich der Kreis zum Auftakt der Geschichte.

Und zum nicht endenden Kreislauf des Alltages.

 

Natalia Ginzburg (1916-1991) hat in diesem Roman eine bürgerliche Welt dargestellt, wie sie in einer bestimmten historischen Zeit existierte. Aber sie hat in dieser Familiengeschichte auch ein Bild herausdestilliert, das vom Mensch-Sein in der Welt erzählt.

 

 

 

 

 

 

 

 

Natalia Ginzburg: Die Stimmen des Abends

Aus dem Italienischen von Alice Vollenweider

Mit einem Nachwort von Italo Calvino

Wagenbach Verlag, 2021, 144 Seiten

(Originalausgabe 1961)