Lukas Hartmann - Schattentanz

Die Wege des Louis Soutter

"1939, als der Krieg ausbrach, ging mir auf, dass es im Grunde ein endloser Totentanz war, an dem er malte, Blatt um Blatt, ein Tanz, der nicht nur Leid, sondern ebenso Lebensgier ausdrückte, ähnlich wie bei den mittelalterlichen Toten-tänzen, die nach Pestzügen entstanden und neben Betenden auch Besoffene und Kopulierende zeigen."

 

Diese Überlegung stammt von Charles-Edouard, einem Cousin des Musikers und Malers Louis Soutter.

Dieser Cousin ist berühmt unter dem Namen Le Corbusier - ästhetischer Antipode zu Soutter und dessen Art brut.

 

Während Le Corbusier die klare Linie, die reduzierte Form bevorzugt, große Hoffnungen in Mussolini und Hitler setzt (als Erbauer einer modernen Welt, gespiegelt in der Architektur), lässt Louis "die Linien wachsen, wohin sie wollen, er bändigt sie nicht, er lässt ihnen ihre Freiheit."

 

Geboren 1871 als Sohn eines Apothekers und einer Musikerin, steht er unter dem strengen Regiment der Mutter Marie-Cécile. Wie auch der ältere Bruder Albert und die jüngere Schwester Jeanne. Keines der drei Kinder kann die Erwartungen der Mutter erfüllen, alle leiden ein Leben lang unter ihrem Drill, ihrer Härte und Kälte.

"Sie ist eine Tyrannin", sagt Louis als Erwachsener.

 

Albert wird als Alkoholiker in einer Anstalt enden, Jeanne stirbt sehr früh, womöglich durch Suizid, auf jeden Fall infolge einer Depression.

Louis verbringt die letzten 19 Jahre seines Lebens in einem Altenheim, eingewiesen von seinem Vormund (!) im Alter von 52 Jahren. Man hat genug von seinem exzentrischen Lebensstil, traut ihm nicht zu, dass er doch noch auf die Beine kommen und ein selbständiges Leben würde führen können, vor allem in finanzieller Hinsicht.

 

Wie kam es soweit?

Das Leben, den Werdegang des Mannes mit der Doppel-begabung beschreibt der erfahrene Chronist Lukas Hartmann sehr eindrücklich. Er hat schon mehrere auf der Lebensgeschichte historischer Personen beruhende Romane verfasst, mit seinem Buch über Soutter ist ihm ein intimes Porträt gelungen, das dem Einsamen, Verlassenen ins Innerste schaut, zugleich aber respektvolle Distanz wahrt.

 

Verschiedene Personen blicken auf  Soutter, zwei davon berichten in der Ich-Form: der Cousin Charles-Edouard und die Mutter. Weil sie das stärkste Ego haben, das Gegenüber vor allem als ihr Spiegelbild wahrnehmen?

 

All den anderen, von Jeanne über den Vater, die Leiterin der Anstalt, den Dirigenten, Zufallsbekanntschaften oder andere Künstler, die sich für Soutter interessieren,  blickt ein Erzähler über die Schulter, ins Herz.

 

Er beschreibt die enge Beziehung von Louis und Jeanne, bis diese Risse bekam: sie fühlte sich verlassen, nachdem er die Amerikanerin Madge Fursman geheiratet hatte, mit ihr in die USA gegangen war, um dort das Department of Art zu leiten, ein Unterfangen, das vollständig misslang.

Ebenso wie die Ehe der beiden, die in Schlägen und Bissen endete.

"Er war dieser Frau nicht gewachsen, auch nicht der verstörenden Fremdheit eines andern Lebens, in das er hineinstolperte."

 

1904 kehrt Louis Soutter nach Europa zurück. Findet einen Platz als Geiger in einem Orchester, wechselt zu einem anderen Orchester, wird entlassen...

Nach einem Kuraufenthalt fängt er wieder an zu malen, zunächst ein Porträt von Jeanne, das den Weg in eine Ausstellung findet. Die Familie ist empört.

 

Aber die Geige wird nun zweitrangig, Louis zeichnet intensiv. Tausende von Blättern füllt er in seinem Heim in Ballaigues, einem Dorf im Schweizer Jura. Häufig werden die Blätter zum Anfeuern des Ofens verwendet, es dauert lange, bis jemand der Wert der Zeichnungen erkennt.

 

Soutter malt expressive Figuren. Als die Hände zu steif werden, um den Stift zu halten, malt er mit den Fingern.

Er taucht sie in Tinte, bringt Leben und Tod auf Papier.

 

"Gegen das Leiden kann er nichts tun, er kann es bloß ausstellen.  ... Denn alles ist vorhanden im Menschen-gewimmel, zu dem er, als Abseitsstehender, selbst gehört."

 

 

Durch die verschiedenen Personen, die auf Louis Soutter blicken, umkreist Lukas Hartmann den Musiker und Maler.

Erinnerungen, die nicht chronologisch voranschreiten, sondern sprunghaft wie Soutters Leben selbst verschiedene Bereiche beleuchten, fächern die Lebenswege auf.

Von der Kindheit - deren Verwundungen bis zu Soutters Tod im Jahr 1942 nicht verheilen - über Ausbildungen, Ehe, Versuche, irgendwo heimisch zu werden, bis zur vollständigen Hingabe an die Malerei folgen die LeserInnen diesem Mann, dessen "Finger, seine Arme, sein Körper (das) darstellen, was er innerlich sah."

 

Eine wunderbare Hommage an einen einsamen Menschen und radikalen Künstler. Ein Roman, der den Blick auf die Bilder Louis Soutters verändert.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Lukas Hartmann: Schattentanz - Die Wege des Louis Soutter

Diogenes, 2021, 256 Seiten