Isabella Huser - Zigeuner

"Ich sei ... selbst auch eine Jenische, hörte ich mich sagen und es fühlte sich gut an. Es war das erste Mal. Früher sagte ich, wenn ich gefragt wurde: Halb italienisch, halb jenisch schweizerisch. Ich hatte nicht gewusst, so erkannte ich, dass man Verschiedenes sein konnte, ganz."

 

 

Die Autorin Isabella Huser, geb. 1958 in der Schweiz als Tochter einer italienischstämmigen Lehrerin und eines jenischen Berufsmusikers, hat die Geschichte ihrer Familie rekonstruiert und in Romanform gegossen. Ihre Protagonis-tin ist Anna, die mit ihr Alter und Herkunft teilt.

 

Auf das Mädchen Anna greift sie zurück, wenn sie von der Kindheit spricht, von der Vertrautheit mit ihrer Mutter, deren Erfahrungen als junge Gastarbeiterin eine eigene Geschichte innerhalb des Romans ist, oder dem Zusammen-leben mit den Geschwistern, dem schweigsamen Vater.

 

Ein "Ich" erzählt, wenn es um Einsicht in Akten geht, um die  komplizierte Suche in Archiven, dem langsamen Zusammentragen der Puzzleteile aus der Vergangenheit ihrer Familie.

 

Die Huser sind Jenische, Schweizer Zigeuner, hellhäutig und blauäugig. Die Eltern gehen ihren Berufen nach, die Kinder besuchen die örtliche Schule. Wenn man sie lässt.

 

Es gibt eine Geschichte von Annas Vater, die sie ihm nicht glaubt, nicht glauben kann. Er erzählt von der Flucht im Jahr 1929, die ihm und seinen Geschwistern gelang. Sechs Kinder, das älteste dreizehn, werden in der Nacht von den Eltern mit Pferd und Wagen vorausgeschickt, um den Behörden zu entgehen, die den Jenischen die Kinder wegnehmen. Um sie in Pflegefamilien oder im Heim `ordentlich´ erziehen zu lassen. Sie vom Vagabundieren wegzubringen. Franz und Frieda Husers Kinder konnten sich retten, noch in der Nacht stießen die Eltern zu ihnen und setzten gemeinsam den Weg ins rettende Tessin fort. Dort lag die für sie zuständige Heimatgemeinde.

 

"Ich habe diese Geschichte nicht geglaubt als Kind, hielt sie nicht für wahr. Es war nicht so, dass mein kindliches Selbst geglaubt hätte, mein Vater habe sich diese Geschichte ausgedacht. ... Woran ich hingegen nicht glaubte, war die Gefahr. ... Ich konnte sie mir nicht vorstellen, die Flucht der Kinder. Die Bedrohung konnte nicht real sein, es war nicht möglich. ... Recht und Gesetz hätten verhindert, und die Leute hätten verhindert, dass man Eltern die Kinder wegnahm, bloß weil sie Jenische waren. Dass es anders sei, war nicht denkbar."

 

Die Erzählerin muss erfahren, dass es gängige Praxis war,

bis ins Jahr 1972. D.h. bis sie selbst dreizehn Jahre alt war.

 

"Hier geht es um eine Verfolgung als Programm, die programmatische Verfolgung der Jenischen, vorangetrieben von der bis heute unter demselben Namen  tätigen Stiftung Pro Juventute zwischen 1926 und 1973 mit dem Ziel, die Kinder - mit Unterstützung der Behörden - aus ihren Familien zu reißen, um die jenische Kultur zu tilgen."

 

Geht die Autorin im ersten Teil des Romans bis 1927 zurück, erkundet das Schicksal ihres Vaters und seiner Geschwister, verfolgt sie im zweiten Teil die Geschichte ihrer Vaterfamilie bis ins 17. Jahrhundert. Die Erlebnisse der Familienmitglieder über mehrere Generationen hinweg verknüpft sie mit der großen und kleinen Politik, mit Schreiben von Stadträten, Verfügungen von Bundesebene und Staatssekretären.

 

Immer wieder tauchen dabei Formalien auf, die den Jenischen  verwehrt werden. An erster Stelle steht hier der "Bürgerort", der im Reisepass vermerkt ist. 

"Er besitzt den Beleg dafür, wer wir sind und dass wir Hiesige sind."

 

Verweigert man den Menschen diesen Ort, nimmt man ihnen die Bürgerrechte, treibt sie in die Flucht, sofern sie ihre Kinder nicht `freiwillig´ abgeben.

"Entscheidend ist: sich nicht niederlassen, sich in keiner Gemeinde anmelden, die Kinder nicht zur Schule schicken. Es ist eine makabre Umkehrung: Die Vorurteile zu erfüllen ist die einzig mögliche Rettung."

 

Im dritten und letzten Teil des Romans führt die Autorin die beiden Stränge zusammen.

Sie findet einen großen Stammbaum ihrer Familie in den Akten, sie fügt die Puzzleteile ineinander, und plötzlich wird ihr klar, wer ihre Ahnen sind, aus welchem Zweig der Huser-Familie sie stammt, welches Schicksal diese ereilte.

 

Noch einmal lässt sie ihre Tante Frieda die Geschichte der Flucht und der Zeit danach erzählen, sie schließt den Kreis zum Anfang des Romans, klärt auf, welche Szene auf dem Familienfoto, Titelbild des Romans, zu sehen ist.

 

 

Isabella Huser ist ein Kunststück gelungen. Sie erzählt eine Familiengeschichte, die die einzelnen Personen lebendig werden lässt. Zeigt ihren Charakter, ihre Nöte, ihre Versuche, sich zu wehren, ein eigenständiges Leben zu führen, niemandem auf der Tasche zu liegen.

Indem sie die reale Geschichte der Familie Huser in ihrem Roman fiktionalisiert, schält sie zugleich einen nicht unerheblichen Teil der Geschichte der Schweiz, nämlich den Umgang mit Fremden, heraus.

 

"Ich suchte nach Spuren des Fremden ... Nach Fremdem suchte ich und danach, was das Heimische ausmachte, wie es aussah, vielleicht heute noch aussieht."

 

Ihr Vater Toni hatte sich jedenfalls Pferd und Wagen gekauft, nachdem sie sie sich im Tessin niedergelassen hatten.

"Für alle Fälle", wie er mehrfach betont. "Man muss mobil bleiben".

 

 

 

 

 

 

 

 

Isabella Huser: Zigeuner

Bilgerverlag, 2021, 256 Seiten

 

 

 

 

 

Wer sich darüber hinausgehend für die Jenischen interessiert, dem sei die "Große Erzählung" Jenische Reise von Willi Wottreng, ebenfalls im Bilgerverlag erschienen, empfohlen. Ganz anders komponiert, ist sie eine wunder-bare Ergänzung des Romans "Zigeuner" von Isabella Huser