Izabela Leal - Die Andere

Dem Buch vorangestellt ist eine Einführung mit dem Titel "Alle Stimmen, die Stimme". Sie bereitet darauf vor, dass die Lektüre "einen Teil der Leserschaft unweigerlich verunsichern" wird. Diese Verunsicherung liegt nicht nur im Inhalt, sondern auch in der Form. Denn das Buch besteht aus 44 "Szenen", diversen "Erwägungen", Regieanweisungen und einem "Chor", der die Rolle eines Gerichts inne hat. Es spricht ein "ich", es erzählt von sich und von ihr, diesem "sie", das die Erzählerin begleitet, besetzt, ergänzt, traumatisiert, beflügelt, ausbremst....

 

Diese "Andere" ist ein Teil der Erzählerin, ein Eindringling.

In diesem Text, der zwischen Poesie und Prosa angesiedelt ist, ist nichts so ganz sicher. Sicher ist vielleicht nur das Fließen. Der Zeit, der Worte, der Suche.

 

Die Erzählerin ist eine junge Frau, sie lebt an mehr als einem Ort. Die kurzen Episoden tragen Titel wie "Am Anfang.",

"Zu Hause.", "Zwischen Erkenntnissen." - nur in den Über-schriften finden sich Großbuchstaben, in den Texten ist alles klein geschrieben, zum Teil ohne Interpunktion.

Die Überschriften lassen häufig Konkretes vermuten - die Orts- oder Zeitangaben sind Versuche, etwas festzustellen, doch die Unsicherheit bleibt.

Sie bilden den Gedankenfluss der Erzählerin ab, wandern von philosophischen Überlegungen bis zu Backrezepten.

Die Anweisung, wie ein wunderbares Brot herzustellen ist, ist ein Verweis auf den Körper, der großen Raum im Text einnimmt. 

 

Der Körper ist nicht Hülle oder Wohnsitz von Geist und Seele. Den Gegensatz von Körper und Geist aufzuheben ist eines der Themen des Buches.

 

"die arme schlugen wurzeln in den wänden der mund wie zu einem gewaltigen hohlraum geöffnet. die stimme schnitt das wort ab schärfte die zunge. und endlich starb die sonne in ihrem gelben gewand."

 

Die Erzählerin möchte fliehen, die "Andere", ihren steten Ruf loswerden, doch sie ist auch die Stimme der Sehnsucht, der Hoffnung. So, wie innen und außen verwischen, die Zeit verschwimmt oder Konkretes wie Namen sich mit Figuren (die Nachbarin, die Kartenlegerin) vermischt, so lässt sich nirgendwo Einheit oder Einigkeit herstellen.

 

Die Suche wird im Schreiben vollzogen, sie wird nicht im klassischen Sinne `erzählt´. Es berichtet kein Erzähler was passiert. Die LeserInnen sind aufgefordert, sich einzulassen auf diesen verunsichernden Text, der abschließt mit der Frage: "können wir in der eigenen haut überleben?"

 

 

Das preisgekrönte Buch der 1969 geborenen brasilianischen Schriftstellerin ist ein gelungenes Experiment.

Zwischen sehr nüchternen Überlegungen, die stellenweise  an Albert Camus´ Gedankengänge erinnern, und der Magie der Romantik mäandernd, erschafft sie das Bild einer Frau, das sie zugleich in ein Kaleidoskop verwandelt.

Man kann dieses Buch mehrfach lesen, man wird jedes Mal anderen Figuren begegnen.

 

"was zählt ist dass ich hier bin." - doch wer ist "ich"?

 

"Die Andere" ist in der Reihe "neue szene" erschienen, eine von 14 (!) interessanten Reihen des "Leipziger Literatur-verlags". Von Lyrik über Grafik, Fotografie und Hörbüchern bis zum Poesiefilm finden sich hier außergewöhnliche Editionen, die eine Entdeckungsreise wert sind.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Izabela Leal: Die Andere

Übersetzt von Timur Stein

Leipziger Literaturverlag, 2020, 90 Seiten

(Originalausgabe 2016)