Norman Levine - Aus einer Stadt am Meer

Wenn Joseph Grant, der Held dieses Romans, um eine Kurzbiographie gebeten wird, schreibt er folgendes:

"Joseph Grand. Geboren 1926 in Polen. Kam nach Kanada, als die Eltern 1929 auswanderten. 1944 Eintritt in die Royal Canadian Air Force. Flog Einsätze von Luftwaffenstützpunkten in England über Europa. Nach dem Krieg Rückkehr nach England. Verheiratet mit einer Engländerin. Reiseschriftsteller."

 

Diese Angaben stimmen ziemlich genau mit den Lebens-daten Norman Levines (1923-2005) überein. Doch er ist kein Reiseschriftsteller im klassischen Sinn, er schrieb Gedichte, Kurzgeschichten und zwei Romane, erhielt diverse Preise und gehört zu den großen Erzählern der kanadischen Literatur. 

 

Joseph Grant hat es zusammen mit seiner Frau Emily und den drei kleinen Töchtern in das englische Küstenstädtchen Carnbray verschlagen. Dort ist absolut nichts los, das tägliche Einerlei ohne Unterbrechung geht nicht nur Joseph sehr auf die Nerven. Auch Emily würde lieber heute als morgen wegziehen, doch für ein Haus in London reicht das Geld nicht.

 

Der Mangel ist immer Thema in diesem Roman, denn Joseph erhält nicht mehr genug Aufträge, es wird zunehmend schwierig, seine Artikel bei Zeitschriften unterzubringen.

 

Einziger Lichtblick für ihn: seine Fluchten nach London.

Hier besucht er Albert, bei dem er auch übernachten kann.

Er trifft sich mit Charles Crater, einem Maler. 

Ein weiterer Freund ist Jimmy - Levine führt die LeserInnen in die englische Gesellschaft ein, indem er die Gewohnheiten und Besonderheiten der Joseph umgebenden Menschen schildert, die jeweils anderen Kreisen angehören.

 

Auch seine Kinder und die in Kanada lebende Schwester sowie die Eltern werden porträtiert.

 

Dieser Reigen an Personen, die Aufmerksamkeit, die der Schriftsteller ihnen entgegen bringt, ersetzt in Josephs Leben die (großen) Ereignisse, die Abwechslung, die er vermisst.

 

Eine Reise nach Kanada, die er im Auftrag eines Magazins für eine Reportage unternimmt, gibt ihm Gelegenheit über die Unterschiede zwischen neuer und alter Welt zu reflektieren.

Und auch über seine Stellung innerhalb - oder außerhalb - der Gesellschaft. 

 

"Emily und die Kinder in Carnbray sind meine Basis. Ohne es geplant zu haben, hat sich herausgestellt, dass der einzige Weg, sich etwas, das man als wertvoll erachtet, zu erhalten, darin besteht, sich abzuschotten, abgeschnitten zu ein. ...

Dass der einzige Weg, an den Dingen festzuhalten, die wirklich wichtig sind, der Rückzug aus der Gesellschaft ist. ... (Doch) nach einer Weile muss ich davor fliehen. ... Ein Teil von mir will das Herkömmliche und ein anderer Teil will außerhalb der Gesellschaft sein.  ... und so bleibt mir anscheinend kein anderer Weg, als diese zwei getrennten Leben zu führen."

 

Norman Levines Art, diese zwei Leben seines Helden Joseph Grant miteinander zu versöhnen, ist die ganz genaue Beschreibung seiner Umgebung und seines täglichen Lebens.

 

Für mich ist der Roman eine `Reise in den Alltag´.

In der Ich-Form schreibt hier ein Reiseschriftsteller seine Beobachtungen, Erlebnisse, Reflexionen nieder, sehr präzise, ohne pathetische Ausschmückungen, stets das Einzelne und das Ganze im Blick behaltend. So entsteht eine "fiktionale Autobiographie", die ganz unmittelbar berührt.

 

Nicht wenige Szenen sind dabei sehr witzig. Als Künstler erhält sich der Schriftsteller den distanzierten Blick von außen. Beispielsweise ein Gespräch zweier Schwestern

Ende achtzig:

"Sie saßen an unserem Nebentisch. Auch sie waren gekommen, um die Sonne zu beobachten. Und jedes Mal, wenn wir da waren, führten sie dasselbe Gespräch."

Es folgt die Wiedergabe eines aberwitzigen Dialoges, eine Alltagsszene in Reinkultur, die dessen Absurdität vor Augen führt.

 

Brachte eine Affäre mit einer Schauspielerin Glanz in Josephs Leben, ebenso die Besuche bei und Treffen mit Charles Crater (dem Maler Francis Bacon nachempfunden, mit dem Norman Levine gut befreundet war) oder die Reisen nach Kanada, so schließt der Schriftsteller seinen Frieden mit einem der langweiligsten Orte, an dem ein Mensch nur leben kann. Man muss nur genau hinsehen.

 

Schön, dass dieser Roman aus dem Jahr 1970 nun erstmals! auf Deutsch vorliegt.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Norman Levine: Aus einer Stadt am Meer

Übersetzt von Thomas Löschner

mitteldeutscher verlag, 2020, 200 Seiten

(Originalausgabe 1970)