Luo Lingyuan - Die chinesische Orchidee

"Sie plündern den Staat aus, indem Sie den Behörden durch sexuelle und finanzielle Bestechung ein Grundstück nach dem anderen zu billig abkaufen und es dann teuer an Dritte verkaufen. Mit einem Wort: Sie stehlen dem Volk sein Vermögen." - "Sagen Sie mir, wie man im Geschäftsleben ohne Bestechung Erfolg haben soll."

 

Der erste Satz stammt von Zhou Anping, Ermittler der Disziplinarkommission, der zweite Satz ist die Replik

Su Lifeis, jener Frau, die über die Schönheit einer Orchidee verfügt. Sie ist nicht nur anmutig, sie ist auch mutig, schlau, zäh, berechnend, verführerisch, untreu, sie will vor allem eines: nach oben, nach ganz oben.

 

Lifei wurde 1967 geboren, sie ist das Kind einer sogenannten "schwarzen" Familie. Zu diesen gehören nach damaligem Verständnis "Grundbesitzer, Reiche, Konterrevolutionäre und Rechtsabweichler". Da Lifeis Großvater eine Schnaps-brennerei besaß, gehörte er bereits zu den Kapitalisten.

Er wurde enteignet und geschlagen, starb an seinen Verletzungen. Sein Sohn war zwar bettelarm, galt aber weiterhin als Kapitalistensohn, dies verhinderte eine gute Arbeit, ihm blieb nichts als Tofu pressen. Er starb in Folge

all der Demütigungen, die ihn krank gemacht hatten - da waren Lifei zehn und ihre Schwester Limei sechs Jahre alt.  

 

"Das Erbe, das Su Wantao seinen Töchtern hinterließ, bestand nur aus zwei Sätzen: Ihr müsst euch an die Mächtigen halten. Dann seid ihr geschützt und habt eine Zukunft."

 

Diese Sätze beherzigt Lifei. Sie schafft es, eine Fachschule zu besuchen und eine Arbeit als Qualitätskontrolleurin in einer Textilfabrik zu bekommen. Doch davon wird man nicht reich.

 

Lifeis Leben fängt an sich zu ändern, als sie auf einer Betriebsfeier den Vizegouverneur Kang Yimiao kennen lernt.

Da ist sie achtundzwanzig Jahre alt, ist verheiratet mit Li Rong, 42, und hat eine fünfjährige Tochter, Jinjing.

Ihren Ehemann hat sie über eine Heiratsvermittlerin gefunden, die sie gebeten hatte, einen Beamten für sie zu suchen. Ein solcher ist die Eintrittskarte in die Gesellschaft.

 

Li Rong unterstützt Lifei nach Kräften, Kang näher zu kommen. Er weiß, dass seine eigene und die Karriere seiner Frau nicht von fleißiger Arbeit abhängen, sondern von Beziehungen und von "Beschützern" in der Politik.

 

Lifei lässt sich auf eine gewinnbringende Affäre mit Kang ein. Diese bringt sie nach Changsha, weg aus ihrer kleinen Heimatstadt. Dort soll sie einen Auftrag für den Direktor einer Teefabrik erledigen - ein gutes Wort für ihn einlegen, damit er ein Grundstück erwerben kann.

 

Dies ist Lifeis Einstieg in die Immobilienbranche. 

In ihr wird sie es weit bringen. Am Ende der 1990er Jahre schaut die Partei nicht mehr, woher jemand kommt, sondern "wohin jemand geht." Die Ausrichtung zum Kapitalismus hin ist vollzogen, es sind kluge Köpfe mit Mut gefragt, die traum-haften Wachstumsraten kommen nicht von alleine.

Doch gleichzeitig geht ohne die Partei gar nichts.

Sie bestimmt, wer wann wo investiert, wer Erfolg hat, wer nicht. 

 

Kang befördert Lifeis Mann, die ganze Familie zieht nach Changsha. So bleibt es unauffälliger, dass sie eine Beziehung zu Kang unterhält. Sie ist nun eine "Ernai", eine Konkubine, eine Frau, die einen mächtigen Beschützer hat.

Aus diesem Verhältnis ziehen beide einen Gewinn.

Die Frau wird standesgemäß versorgt, er schanzt ihr Geschäfte zu, lässt sich jedoch auch für diese Gefälligkeit bezahlen: mit Sex und mit Geld.

 

 

In ein solches Geflecht ist Lifei geraten, sie schlägt sich sehr gut. Kang ist nur der Anfang, denn sie wird nicht in Changsha bleiben. Sie zieht weiter nach Peking, ins Zentrum der Macht. Ihre Beschützer wechseln, sie werden immer mächtiger. Auch nach Hongkong streckt sie ihre Fühler aus, in der aufstrebenden Stadt Qingdao lässt sie sich nieder.

Zu Grundstücksgeschäften kommen solche mit Öl - die schöne Orchidee ist eine Goldgräberin.

 

Sie residiert in der schönsten Villa der Stadt, ihre Liebhaber sind der Bürgermeister Meng und der Direktor einer Raffinerie, Lu Yao. Ihn bezeichnet sie als ihre große Liebe, das hält sie nicht davon ab, auch mit dem Bürgermeister intim zu werden. 

 

Die Haltung Lifeis gibt einen tiefen und faszinierenden Einblick in eine Gesellschaft, die vielen Menschen im Westen unbekannt sein dürfte.

Wichtig sind die Familie - beispielsweise hat Lifei keine einzige Freundin, mit der sie ihre Gedanken teilt, die sie unterstützt. Ihre einzige Vertraute ist ihre Schwester, die auch die Übergabe von Bestechungsgeldern übernimmt.

Lifeis Mann Li Rong unterstützt ihren Aufstieg zur Ernai.

Zwar bleibt die Ehe weiterhin bestehen, doch er ist bereit, 

Lifei mit anderen Männern zu teilen.

 

Die Tochter Jinjin wird so lange es geht von der Wahrheit abgeschirmt, doch natürlich bleibt ihr nicht verborgen, was ihre Mutter tut, zumal diese bald von der Familie getrennt lebt und Mutter und Tochter sich nur einmal im Jahr sehen.

Ihr bleibt nichts anderes übrig, als die Aussage Lifeis zu akzeptieren, sie habe alles nur für ihre Familie, für das Fort-kommen ihrer Tochter getan.

Diese schafft es nach dem Studium auch tatsächlich nach Hongkong, was eine Art Sprung ins Paradies bedeutet, weil dort viel hemmungsloser und unkomplizierter Geld verdient werden kann.

Jinjin lässt ihre Mutter nach deren Entlassung aus dem Gefängnis zu sich kommen. Da Lifei rechtzeitig vorgesorgt hat, besitzt sie bereits ein Konto in Hongkong, sie muss also nicht bei Null wieder anfangen - einen kleinen Teil ihres alten Lebens, d.h. ihres alten Vermögens, hat sie gerettet.

 

Es scheint, als ob jede menschliche Emotion dem Geld untergeordnet würde. Liebe gleicht nicht der westlich-romantischen Idee von Treue und Unterstützung in allen Bereichen des Lebens - Lifei, ihr Mann und ihre Liebhaber führen vor, dass Beziehungen ausschließlich auf wirtschaftlichen Interessen gründen. In keiner einzigen Szene reflektiert Lifei in ethischer oder moralischer Hinsicht ihr Tun. Es ist von vorn herein richtig, weil sie viel verdient. Für sich, für ihre Familie.

 

Und es ist auch nicht so, dass sie unter der Bezahlung mit

der `Währung Sex´ leidet, sie achtet darauf, dass auch sie Befriedigung aus den Begegnungen zieht.

Auf den Gedanken, mit jemandem das Bett zu teilen, von dem sie sich keine geschäftlichen Vorteile erwartet, kommt sie nie. So attraktiv kann ein Mann gar nicht sein.

Das ist Turbokapitalismus bis ins Innerste hinein - geboren aus der Armut!

 

Die mächtigen Männer, die Lifei beschützten, straucheln einer nach dem anderen. Sie selbst verbringt vier Jahre im Gefängnis, sie kommt frei, weil sie mit den Behörden zusammenarbeitet. Sie hatte ein Notizbuch angelegt, in das sie wie eine Buchhalterin alle Liebhaber mit ihren sexuellen Vorlieben und echten Namen eintrug. 

"Dieses Tagebuch ist eine Bombe! So viele mächtige Männer sind bei dieser Frau ein und aus gegangen. ... Das ist ein scharfes Schwert, mit dem man eine Menge korrupte Beamte erledigen kann,"  jubelt der Ermittler.

 

Im Dezember 2012 endet der Roman. 

Auch Li Rong, Lifeis Ehemann, wurde degradiert.

Doch die Tochter, d.h. die Zukunft, gibt Anlass zur Hoffnung.

 

  

Die Autorin, geb. 1963, lebt seit 1990 in Berlin, sie schreibt auf Deutsch. In China kann ihr neuer Roman nicht erscheinen - er ist zu nah an der Realität angesiedelt.

Denn offiziell ist das System der Konkubinen verboten, die Wirklichkeit sieht bis heute anders aus.

 

Stilistisch erinnert er an das berühmte asiatische Lächeln - vor allem Lifei wirkt manchmal sehr naiv, aber das ist nur die Oberfläche, unter ihrer glatten Haut sieht es anders aus.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Luo Lingyuan: Die chinesische Orchidee

Louisoder Verlag, 2019, 382 Seiten