Nicol Ljubic - Ein Mensch brennt

Die Weltpolitik bricht ein in das Leben des achtjährigen Hanno. Er lebt mit Mutter und Vater in Tübingen, spielt für sein Leben gerne Fußball, sammelt mit Leidenschaft die Bilder der Spieler, die er in ein Album klebt und fährt gerne Auto mit seinem Vater, einem Bauunternehmer. Die Mutter arbeitet in einer Grundschule - alles ist ganz normal in dieser Kleinfamilie der                                                             Mittsiebziger.

 

Man hätte es nicht nötig, aber man will einem Studenten etwas Gutes tun, also wird die Einliegerwohnung im Keller an einen solchen vermietet. Im Sommer 1975 zieht der schon vierundvierzig Jahre alte Hartmut Gründler ein.

Er unterrichtete Deutsch als Fremdsprache, studiert jetzt aber nochmal Sprachwissenschaften. Sein Anliegen ist es,

die Sprache der Mächtigen auf ihre Manipulationen hin zu durchleuchten und bloßzulegen. Ein nobles demokratisches Anliegen also.

 

Er ist ein radikaler Umweltschützer, vor allem dem Kampf gegen die "Kernenergie" - dieses Wort ist ein Euphemismus, wie er erklärt - gegen die Atomspaltung mit all ihren Risiken im Klartext, gilt sein Augenmerk. 

Er korrespondiert mit Helmut Schmidt, den er als Verräter empfindet. Schmidt hatte erklärt, er würde die Atomenergie auch dann vorantreiben, wenn seine Partei gegen diese stimmt. In Schmidts Augen ist sie die einzige Möglichkeit, sich vom Öl unabhängig zu machen. 

 

Leser, die bis Mitte der Sechziger geboren wurden, werden sich erinnern: es ist die Zeit der RAF, der Wehrsportgruppe Hoffmann, der Handzettel, Meetings und Demonstrationen nicht nur in Brokdorf und Grohnde, der endlosen Diskussionen und der Suche nach einer besseren Welt.

Diese Zeit wird lebendig in Ljubics Roman.

 

Ljubic betont in einem Interview, er hätte einen Familien-roman geschrieben. Hartmut Gründler ist eine Belastungs-probe für die Familie Kelsterberg, die sie nicht besteht.

Der Aktivist, der Marta Kelsterberg zunehmend für seine Sache - es geht ihm immer um "die Sache" - einnimmt, und weder Hartmut noch Marta schrecken davor zurück, auch Hanno einzuspannen, wird zu einem Keil in der Ehe der Kelsterbergs. Aber war die Ehe "v. Ha." (vor Hartmut) in Ordnung? (In "v. Ha." und "n. Ha." teilt Marta die Zeitrechnung ein).

Ist nicht der Kampf für die Sache und die Welt eine Möglichkeit der Befreiung aus einer kleinbürgerlichen, verstaubten und geistig keinerlei Anregung oder Befriedigung bietenden Lebensweise?

 

Marta ergreift die Chance und nimmt an Hartmuts Kampf teil. Hanno hat das Gefühl, in die zweite Reihe zurückzutreten. Er wird zwar als "Strahlendummy" bei einer Aktion in Stuttgart benutzt, er wird auf Demos geschleppt,

er steckt Briefe in Umschläge und klebt Marken drauf -

doch statt all dem hätte er viel lieber Fußball gespielt.

 

Kurt Kelsterberg spricht von dem "Spinner", womöglich sei er ein Bombenleger. Er spürt die Entfremdung von seiner Frau sehr deutlich, aber er versteht nicht, worum es ihr im Kern geht: um ein eigenständiges Leben.

 

Es ist aus heutiger Sicht sehr zweifelhaft, ob sie zu einem solchen eigenständigen Leben fand.

 

Der Roman spielt im Jahr 2011. Hanno ist Mitte Vierzig, die Mutter über Siebzig, der Vater ist bei einem Autounfall ums Leben gekommen, da war Hanno zehn. Kurz nach Hartmuts Tod also, die beiden liegen nicht weit auseinander auf dem Friedhof. Hanno hat kein herzliches Verhältnis zur Mutter: zeitlebens hat er das Gefühl hinter der Sache zurück zu stehen. Dieser widmete sich die Mutter sofort und vollständig nach Hartmuts Tod.

Er hat sich am 16. November 1977 in Hamburg, vor der Halle, in der der Parteitag der SPD stattfand, selbst verbrannt und verstarb 5 Tage später.

 

Die Mutter verwaltet Hartmuts Andenken, archiviert jeden Zettel, den er geschrieben hat, schimpft auf die Medien,

die nicht über ihn berichten, denn sonst würde der "Volksaufstand" losbrechen. Hartmut, und nur er, wusste,

dass nur eine atomfreie Welt eine gute Welt sein kann.

 

Der Roman ist aus der Perspektive des acht bis zehn Jahre alten Hanno erzählt, er spielt zwischen 1975 und 1977.

Die naive Sicht des Kindes, die auch manchen komischen Moment enthält, auf sehr tragische Geschehen, ist eine zutiefst menschliche Perspektive. Bisher unbeleckt von taktischen Überlegungen oder philosophischen Gedanken, wird er in eine Welt geworfen, die er nicht versteht.

 

Was im ganzen Roman, egal ob es sich um die Teile handelt, in denen Hanno direkt aus seiner Wahrnehmung erzählt, oder aus der Rückschau als Erwachsener, immer wird klar, dass Hartmut Gründler einer war, der das Wohl der Menschheit über den einzelnen Menschen stellte.

Den einfachen Blick auf ein Gegenüber hatte er verloren.

Er war ein Getriebener, ein Besessener.

Der Titel des Buches bezieht sich auf das Ereignis am

16. November 1975 genauso wie auf den Menschen Hartmut, der für "die Sache" brannte, die alles andere versengte.

 

"Da war einer, der brannte, der keine Minute ruhte. ...

Seine Getriebenheit brachte es auch mit sich, dass ihm die Geduld (oder Muße) fehlte, sich auf Menschen einzulassen. Schon seine Art zu reden bewahrte ihn davor, allzu tiefe Verbundenheit aufzubauen."

 

Hanno fragt sich, warum die Eltern überhaupt zusammen kamen, fragt sich, was die Grundlage dieser Ehe war, fragt sich, ob der Unfall wirklich ein Unfall war, fragt sich, warum die Mutter so froh war über den neuen Mieter, fragt sich,

ob er selbst immer eine Bürde für sie war und und und.

Als Erwachsener stellt er diese Fragen. Manche sich selbst manche auch der Mutter. Dieser vor allem auf einer Autofahrt von Berlin nach Freiburg, die die beiden auf dem Rückweg über Tübingen führt.

 

Der Autor bringt mit dem Kind Hanno und dem fragenden Erwachsenen die Ebene des Menschlichen in die Politik.

Und weil er den Blickwinkel zwischen unmittelbaren Eindrücken und rückblickenden Überlegungen häufig wechselt, ist sein Roman eine durchgängig sehr interessante Geschichte, eine Art "Doku-Fiktion": um die historische Gestalt Hartmut Gründler webt er die fiktive Geschichte einer Familie, die in die Politik gerät.

 

Völlig fiktiv ist diese nicht, denn Ljubic spürte einen Mann auf, der sich - wie Marta Kelsterberg - ganz dem Andenken Gründlers verschrieben hat. Sein Name ist Wilfried Hüfler, ihm ist der Roman gewidmet. Er war sein Biograph, sammelte alles über Gründler, sah sich selbst immer im Spiegel des Verehrten. Gründler wurde zur Belastung für die Familie Hüfler, der Sohn Friedmar sagte, es sei kein persönliches Gespräch mit dem Vater mehr möglich gewesen, die Ehefrau hatte das Gefühl, eine Ehe zu dritt zu führen. Die Realität lieferte den Rahmen, die Phantasie des Autors hat die Geschichte ausgestaltet.

Ljubic hat die Rollen vertauscht, und er hat das Kind als Erzähler gewählt. 

 

Nach Mutters Tod liest Hanno Briefe, Artikel etc., und versucht für sich die Geschichte zusammenzufassen:

 

"Sie hatte alles auf ihn gesetzt, alles, was sie hatte, ihr Leben, mein Leben, das Leben meines Vaters. ... Das Einzige, was Hartmut erreicht hat, war: uns das Leben zu nehmen, indem er meiner Mutter die Verantwortung für die Welt übertrug, die Verantwortung, vor der er sich mit seinem Tod gedrückt hat. ... Und seine Entschlossenheit, die meine Mutter so bewundert hat, war in Wahrheit eine unglaubliche Eitelkeit, eine Selbstgefälligkeit. ... Könnte es sein, dass er sich einfach gedrückt hat? Letztlich war Hartmut desertiert."

 

Das sind harte Worte über einen Kämpfer für das Gute.

Aber vermutlich die einzig möglichen, wenn man die Perspektive des Kindes konsequent durchführt.

 

Hanno hätte sich am 16.11.1977 für etwas ganz anders interessieren sollen/wollen, und zwar ausschließlich:

"Mir tat es leid für Hartmut und auch für meine Mutter. Ausgerechnet an dem Tag, als er sich verbrannte, schoss Fischer das Tor, das später zum Tor des Jahrhunderts

gewählt wurde. Hartmut hatte sich ganz offensichtlich

den falschen Tag ausgesucht."

Am 16.11. 2017 war dieses Tor mehrmals im Fernsehen zu sehen, und wer es bis dahin noch nie gesehen hatte, kennt es jetzt. Von Hartmut Gründler kein Wort.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Nicol Ljubic: Ein Mensch brennt

dtv Literatur, Originalausgabe 2017, 336 Seiten