Catrin George Ponciano - Alles - bloß nicht vage!
Die portugiesische Dichterin Florbela Espanca

"Ich habe ein Drittel meiner Lebenszeit wirklich und wahrhaftig gelebt. Die restliche Zeit habe ich geweint."
Das Leben der Dichterin Florbela Espanca, 1894-1930, war geprägt vom Ringen um Freiheit, Selbstbestim-mung und Unabhängigkeit, auch in finanzieller Situation. Schon sehr früh wusste sie, dass sie eine Dichterin war, sie wollte von diesem Beruf auch leben können.
"Florbela Espancas Werk gleicht einem wunden Selbst-bildnis. Messerscharf dichtet sie an der Nahstelle ihrer Kümmernisse entlang. In den drei Sonett-Bänden, ihrem umfangreichen Briefwerk, ihrer Prosa, ihren Aphorismen und ihren Reflektionen vererbt Florbela Espanca ein literarisches Zeitzeugnis für das erwachende weibliche Bewusstsein in Portugal und in Europa. Zudem hinterlässt sie einen unermesslichen Beitrag darüber, welchen inneren und äußeren Kampf Frauen ausfechten müssen, wenn sie als sie selbst bestehen wollen."
Diesen Kampf zeichnet Catrin George Ponciano mit viel Empathie und einem tiefen Verständnis für das Werk der Dichterin nach. Sie geht auf alle Aspekte ihres Lebens ein: ihre Herkunft, die drei Ehen, zwei Fehlgeburten, das Leiden an dem Wissen, keine Kinder bekommen zu können.
Auf ihre unermüdlichen Bemühungen, in der Literaturwelt Fuß zu fassen, was für eine Frau extrem schwierig war.
Auf ihre Leidenschaft, mit der sie alles im Leben anging - angefangen bei dem ungewöhnlich aufgeweckten Mädchen, dessen Talent eine Lehrerin erkannte und darauf drängte, sie auf das humanistische Gymnasium nach Évora zu schicken.
1907 ging Florbela in die heutige Provinzhauptstadt Évora, in der es eine starke republikanische Bewegung gab. Sie fuhr also ins Zentrum des Aufruhrs, entdeckte den vehementen Verfechter von Freiheit und Bildung, Raul Proenca, ein Dichter, der sie tief beeindruckte. Sie erfuhr, dass dieser ein Freund ihres Vaters war. Die beiden werden sich immer wieder begegnen, Proenca wird eine Rolle in Florbelas literarischem Leben spielen.
Dort in der Stadt verwandelte sich die knapp Vierzehnjährige in "Bela". Sie legte das Dörflich-Kindliche ab, schminkte sich, wählte Kleidung nach ihrem Geschmack, ging aus - sie begann, nach ihren eigenen Vorstellungen zu leben. Und eckte damit gründlich an. Als einziges Mädchen an der Schule wurde sie streng beäugt, bewundert und angefeindet. Doch sie ließ sich nicht abbringen von ihrem eingeschlage-nen Weg.
An dieser Stelle der chronologisch fortschreitenden Bio-grafie fügt Catrin George Ponciano ein Sonett ein: Évora.
Die letzten beiden Zeilen lauten:
"Und meine schwermütige Seele lauscht und staunt ...
Und spürt den Wandel vom Mädchen zur Frau ..."
Durchgängig finden sich Gedichte, immer zweisprachig, die meisten in deutscher Erstübersetzung, in denen Florbela ihre momentane Lebenssituation reflektiert.
So ergibt sich für die Leser:innen ein Einblick in ihr Leben und Werk, und auch in die Entwicklung ihrer Dichtkunst.
Bevorzugte die Dichterin am Anfang noch Vierzeiler, zeigte sich bald, dass das Sonett die geeignete Form ist, gibt es doch mehr Raum für Rhythmus und Gedanken.
"Im Lauf der Jahre perfektionierte sie diese Form bis zum Exzess" und "fand zu ihrem ureigenen Florbeliana-Stil".
Ein ureigener Stil kann nur durch konsequentes Arbeiten entwickelt und gefunden werden. In (fast) jeder Lebens-situation schreibt sie, ist Schreiben die einzige Möglichkeit, die Gespenster, die in ihrem Inneren hausen, zu bannen.
Catrin George Ponciano arbeitet in ihrer Biografie sehr deutlich heraus, wie kräftezehrend das ewige Ringen um Selbstständigkeit war. Für die Gesellschaft war eine solche Frau absolut untragbar. Lebte sie in Lissabon war sie zumindest nicht die einzige Frau, die einen Anspruch auf ein eigenes Leben erhob. Sie lebte mit ihren Ehemännern jedoch auch in ländlichen Gegenden, an denen sie das Gefühl hatte, die Zeit sei stehen geblieben. Erst mit ihrem dritten Mann, dem Arzt Mario Lage, fand sie in Matosinhos bei Porto ein wenig Ruhe.
In diese platzte ein Schicksalsschlag, von dem sie sich nicht dauerhaft erholen konnte: ihr geliebter Bruder kam 1927 bei einem Flugzeugabsturz ums Leben.
"Der einzige Mensch, der je Verständnis für sie empfunden hatte, war nicht mehr."
Mit ihm hatte Florbela wenige Wochen zuvor noch einmal für eine kurze Zeit das Nachtleben in Lissabon genossen.
Er lobte ihre Novellen, für Florbela ein zweischneidiges Lob:
"Ich kann nichts mehr dichten."
"Sie besaß nicht mehr genügend Kraft zum Dichten, geschweige denn dazu, sich zu entblößen, nicht einmal mehr, um die Fäuste zu heben."
Die Dichterin ist nun dreiunddreißig Jahre alt. Nach einer tiefen Depression, ausgelöst durch den Tod des Bruders, ordnet sie in den letzten beiden Jahren ihres Lebens ihr Werk. Wenige Tage vor ihrem 36. Geburtstag erreichen sie die Druckfahnen ihres letzten Gedichtbandes. Sie redigiert ihn gründlich, gibt ihn zum Druck frei.
"In ihrem der Fahne beigefügten Brief an Battelli kündigte sie ihren Entschluss an, an ihrem Geburtstag zu sterben."
Sie schreibt eine kurze Karte an diverse Freunde, sie kündigt ihren Tod an. Man hält die Formulierung "Ihr Lieben, bitte denkt an meinem Geburtstag an mich, denn ich werde sterben" für eine Metapher. Es ist keine.
"Den Tod ließ ich ein" ist der Titel ihres letzten Sonetts.
Catrin George Ponciano bettet das Leben der Dichterin in das Zeitgeschehen ein. Portugal befand sich im ersten Drittel des vergangenen Jahrhunderts zwischen Monarchie, Republik und Diktatur. Sie schildert lebendig die Schauplätze, an denen sich Florbelas Leben abspielte, verknüpft das Erlebte dort mit dem Einfluss, das es auf ihr Schreiben ausübte.
Sie macht mit all den Literaten bekannt, zu denen Florbela Kontakt hatte. Zu ihnen gehört der bereits genannte Proenca, aber auch der Kreis um Pessoa, die Dichterinnen Judite Teixeira und Júlia Alves, Namen, die heute nicht mehr alle unbedingt geläufig sind. Doch Catrin George Ponciano lässt sie lebendig werden, waren sie doch Weggefährten der Dichterin.
Die Biografin blickt aus verschiedenen Perspektiven auf Florbela Espanca. Sie zeichnet ihren Lebensweg entlang ihres Werkes nach und öffnet damit den Leser:innen die Tür zu einer Dichterin, die unbedingt entdeckt werden sollte.
In der portugiesischen Literatur gilt sie heute als die, "die das weibliche Bewusstsein erweckte, als Kompass für Humanis-mus und als Avantgardistin für autobiografische Lyrik".
Im deutschsprachigen Raum erfährt sie hoffentlich nun auch die Aufmerksamkeit, die ihr gebührt.
Ich
Verloren irre ich durch die Welt
Ich bin die ohne Nordpol in ihrem Leben
Ich bin die Schwester eines Traums, wegen dem
Ich die Gekreuzigte bin, ... die von Schmerz Gebeugte ...
Schatten eines sich auflösenden Dunstschweifes ...
Deren Schicksal verbittert, trostlos und schwer
Mit brutaler Wucht bis zum Tode führt!
Eine untröstliche Seele, auf ewig unverstanden! ...
Die bin ich, die unbemerkt vorübergeht ...
Die man wehmütig nennt, ohne es zu sein ...
Die weint, ohne zu wissen, warum ...
Vielleicht bin ich eine Vision, bloß ersonnen
Von jemandem, der zur Welt kam, um mich zu sehen
Und mich niemals im Leben gefunden hat!
Catrin George Ponciano: Alles - bloß nicht vage!
Die portugiesische Dichterin Florbela Espanca
AvivA Verlag, 2025, 224 Seiten