Natalia Ginzburg - Familienlexikon

In ihrer Nachbemerkung zu diesem Buch schreibt die Autorin, sie habe alleine aus ihrer Erinnerung geschöpft, nichts erfunden und auch die wirklichen Namen der Personen genannt, von denen sie erzählt.

Auf diese Weise hat sie nicht nur die Geschichte ihrer Familie aufgezeichnet, sondern auch die ihres Heimatlandes Italien in der Zeit des Faschismus.

 

Der Lebensmittelpunkt der Familie Levi ist Turin, nur kurz lebt sie in Palermo, wo Natalia als jüngstes von fünf Kindern geboren wird, im Jahr 1916.

 

Ihr Vater Giuseppe Levi ist ein berühmter Arzt und Professor an der Universität. Naturwissenschaftler durch und durch, verbringt er die Tage im Labor, die Abende im Studier-zimmer. Die Mutter hingegen liebt es, ins Kino oder spazieren zu gehen, ließen es die finanziellen Verhältnisse zu, würde sie sich gerne viele schöne Seidenkleider kaufen - zu ihrem Leidwesen kann sie das nicht. Aber sie ist ein Mensch, der von einer beneidenswerten Fröhlichkeit ist,

nie ist sie lange traurig oder gar böse, immer überwiegt der Optimismus. Und ganz so schlecht scheint die Familie nicht gestellt zu sein, denn selbstverständlich ist ein Dienst-mädchen da, die Schneiderin kommt regelmäßig ins Haus, die Wohnung ist mit mehr als zehn Zimmern recht geräumig.

 

Ginzburg erzählt ihre Erinnerungen chronologisch.

Sie denkt an ihre Brüder zurück, die so verschieden sind, wie nur Brüder es sein können. Manchmal prügeln sich Mario und Alberto blutig, nur Gino gefällt dem Vater so richtig.

Wie er selbst ist Gino ein begeisterter Bergsteiger und Skifahrer - jeden Sonntag verbringt die Familie in den Bergen, auch die Sommermonate.

 

Regelmäßig bekommt sie Besuch von Wissenschaftlern, Biologen oder Ingenieuren, Künstlern oder Literaten stehen die Eltern eher kritisch gegenüber. Das bekommt die ältere Tochter Paola zu spüren, die eine zeit lang mit einem jungen Schriftsteller ausgeht - das soll unbedingt unterbunden werden. Paola heiratet später Adriano Olivetti, Spross der Turiner Industriellenfamilie, ein Sozialist ist auch er.

 

Das Familienlexikon liest sich mit fortschreitender Zeit wie ein who-is-who des italienischen Widerstandes.

Nicht nur die Söhne schließen sich kommunistischen Gruppen an, die Eltern verstecken den Sozialisten Filippo Turati, der eine Woche bei Levis lebt, bevor er vor der faschistischen Verfolgung nach Frankreich flüchtet.

Sie haben Kontakt zu vielen Männern, die während des Faschismus gegen diesen agieren und nach dem Krieg im Parlament sitzen oder andere politische Ämter innehaben.

 

Natalia erlebt mit, wie immer mehr Bekannte und auch Verwandte Italien verlassen, Guiseppe Levi verliert seinen Lehrstuhl, glücklicherweise kann er in Lüttich weiterarbeiten. Zuvor saßen er selbst, Mario und Gino im Gefängnis, zusammen mit vielen, die im Hause Levi verkehrten. Auch Natalias späterer Ehemann Leone Ginzburg, ein Literaturprofessor und politischer Aktivist, wird oft verhaftet: vorsichtshalber jedes Mal, wenn eine wichtige Persönlichkeit nach Turin kommt. Mit ihm lebt Natalia drei Jahre in der Verbannung in einem kleinen Abruzzendorf. Nachdem sie dieses Dorf verlassen dürfen, ziehen sie nach Rom, wo Leone 1943 verhaftet wird. Er stirbt an den Folgen der Folter in einem Gestapogefängnis, Natalia kehrt mit den drei Kindern zurück nach Turin ins Haus der Eltern. 

 

Soweit die trockenen Fakten. Das Buch ist aber ganz weit weg von einer trockenen Faktensammlung. 

Der Vater ist ein Freund klarer Worte, präziser Meinungen und immer polternd. "Salami", "Simpel" oder "Neger" sind die üblichen Bezeichnungen für all jene, die nicht so denken wie er, seine Frau muss sich oft anhören, was für eine "Eselin" sie sei - er meint das nicht böse, er ist einfach ein sehr herzhafter Mensch, der kein Blatt vor den Mund nimmt.


Die Mutter, die eine ganz andere Art hat, kann mit seinen Donnerwettern gut umgehen. Sie hat viele Freundinnen, verbringt viel Zeit auch in der Nähstube und plaudert mit den Dienstmädchen, zur älteren Tochter Paola hat sie ein enges Verhältnis, sie lernt Russisch - und ist die Beschützerin der Kinder und ihres Kleiderschrankes.

 

Bei jeder Mahlzeit und bei jeder sich sonst bietenden Gelegenheit werden kleine Geschichten erzählt, oft solche, die jeder schon kennt, und die wie Rituale zur Lebensweise der Familie gehören. Diese Erzählungen mit ihren ganz besonderen und ganz bestimmten Formulierungen machen den Schatz aus, mit und von dem die Familie lebt.


"Wir sind fünf Geschwister. Wir wohnen in verschiedenen Städten, einige sogar im Ausland, und wir schreiben uns nicht häufig. Wenn wir uns treffen, sind wir den anderen gegenüber manchmal vielleicht zerstreut oder gleichgültig. Doch ein Wort genügt zwischen uns. Ein Wort oder ein Satz genügt: einer jener Sätze, die uns, als wir Kinder waren, unendliche Male wiederholt wurden. Es genügt, uns zu sagen: Wir sind nicht nach Bergamo gekommen, um einen Ausflug zu machen, oder: Wonach stinkt Schwefel-wasserstoff?, um mit einem Schlag unsere alten Beziehungen, unsere Kindheit und unsere Jugend wiederzufinden, die untrennbar mit diesen Sätzen, mit diesen Worten verbunden sind. An einem dieser Worte würden wir uns im Dunkel einer Grotte unter Millionen von Menschen als Geschwister wiedererkennen. Diese Sätze sind unser Latein, das Vokabular unserer vergangenen Tage, sie sind wie die Hieroglyphen der Ägypter oder Assyrer und Babylonier, Zeugen einer Lebensgemeinschaft, die aufgehört hat zu sein, aber in Texten weiterlebt." 

 

Dieses Weiterleben hat Natalia mit ihrer Erzählung gesichert. Die Entwicklungen der Politik, der Zeit, der Persönlichkeiten hat die Bindungen gelockert, aber die Wörter, Ausdrücke und Redewendungen, der gesamte Familienwortschatz bleiben.

Und für den Leser ist das überaus interessant, auch amüsant. 


Ein kleines Beispiel, das exemplarisch für die Redeweise der Eltern steht:

"Und denk daran, sogleich zu Adele zu gehen! sagte mein Vater. Weh dir, wenn du nicht gehst! Ich will nicht, dass du dich ihr gegenüber wie eine Eselin benimmst. Ihr seid alle Esel. Außer Gino seid ihr alle Esel gegenüber den Leuten! Mario ist ein Esel. Er muss sich wie ein großer Esel benommen haben, als Francesca ihn in Paris besuchte. Er muss kaum geredet haben. Und sie hat auch durchblicken lassen, dass in der Wohnung immer eine grüße Unordnung war!

Wenn man bedenkt, dass Mario einmal so ordentlich war! sagte meine Mutter. So pedantisch, so langweilig. Wie Silvio!" - Wie Silvio! ist einer der speziellen Ausrufe der Mutter, sie denkt dabei an ihren Bruder, einen Feingeist.


Da der Blick weit über drei Generationen der Familie hinausgeht und die Levis nicht nur Betrachter der Zeitgeschichte waren, sondern aktiv und unter großer Gefahr für ihre Ideale kämpfte, liefert das Familienpanorama ein eindrucksvolles Zeitportrait. 

Schön ist, dass auch den Dienstmädchen und Näherinnen genau so Raum eingeräumt wird wie berühmten Gästen des Hauses, auch sie haben ihren Platz und ihre Funktion in dieser Familienwelt und gehören zur Kindheit der fünf Geschwister.

 

Natalia Ginzburg zieht 1950 mit ihrem zweiten Ehemann nach Rom. Dort arbeitet sie weiter für den Verlag Einaudi, für den sie schon in Turin tätig war, schreibt Theaterstücke, übersetzt aus dem Französischen und ab 1983 sitzt sie als unabhängige Abgeordnete im Parlament.

Bis zu ihrem Tod 1991 lebt sie eingebettet in einen großen Freundes- und Familienkreis - ihr wichtigstes Werk bleibt das Familienlexikon.

 

 

 

 

 

 



Natalia Ginzburg - Familienlexikon

Übersetzt von Alice Vollenweider

Wagenbach Verlag, 2013, 187 Seiten

(Originalausgabe 1963, Deutsche Erstausgabe 1965)