Drago Glamuzina -

Der zweite Hauptsatz der Thermodynamik

Dieser Roman - ein modernes Dekameron - spielt in einer einzigen Nacht. Er verzichtet auf die Entwick-lung einer Handlung, er verzeichnet ein Experiment: vierzehn Menschen, Freunde, Paare und Ex-Paare, sitzen beieinander, rauchen, trinken, nehmen diverse Stimulantien. Einer kommt auf die Idee, dass sie sich Geschichten erzählen könnten, aber nicht irgend-welche, sondern solche, die sie noch nie erzählt haben und nie erzählen wollten.

 

"Wir sind alle in den Vierzigern und wurden alle vom Leben gebeutelt. Ich bin mir sicher, dass jeder von uns eine blutige Geschichte zu erzählen hat. Die möchte ich hören. Etwas Authentisches. ... Es muss etwas sein, das uns sprengt, das unser Leben verändert hat, etwas, dessen wir uns schämen oder das wir fürchten. Und was wir bisher niemandem erzählt haben".

 

Der Rahmen für die Erzählungen ist das gemeinsame Warten auf den Schriftsteller Jonathan Franzen. Er versprach, nach einem Besuch der Stadt wieder auf die Party von Schrift-stellern, Redakteuren und Intellektuellen zurückzukehren. Das Warten zieht sich, die Idee, Geheimnisse preiszugeben, entsteht, nachdem Tanja von einer Freundin und deren gewalttätigem Liebhaber erzählt hatte.

Warum nicht eigene Erlebnisse schildern?

Bedingung des Experiments ist, dass das Erzählte weder kommentiert noch nach außen getragen wird, auch nicht in abgewandelter Form in einem Roman erscheint.

 

Das am tiefsten verstörende Thema ist die Liebe. Es ist keiner dabei, der hier nicht zerstörerische Blessuren davon getragen hätte. Lieben und Verlassen, Verlassen-Werden, wieder zusammenkommen und sich erneut verletzen.

Und natürlich die Sexualität. Da es um tiefstreichende Erlebnisse geht, werden Geständnisse über Abhängigkeiten, Obsessionen und Verstrickungen abgelegt, offen und ehrlich vorgetragen.

Es wird von Voyeurismus berichtet, eigenem und auch dem, dem man zum Opfer fällt. Und womöglich dem Täter Jahre später wieder begegnet, eine Begegnung, die eine Kaskade an erneuten Ängsten auslösen kann.

Auch eine religiöse Vision wird thematisiert oder die Frage nach der Trennung von Autor und Werk - die Bandbreite ist groß.

 

Einer beichtet eine Jugendsünde, eine sehr schwerwiegende. Sie hat seinem Leben die Richtung gegeben, denn seitdem versucht er stets der Gute zu sein. Man kann Dinge nicht ungeschehen machen, kann man sie wiedergutmachen?

 

Auch wenn eigentlich nicht kommentiert werden soll, lösen die Erzählungen Reaktionen aus:

"Mir kommt es nicht gerade überzeugend vor, ehrlich. Gut sein, um seine Sünden abzubüßen. Vielleicht hast du das damals gedacht, aber mit der Zeit hat sich das in eine Art und Weise verwandelt, Sympathien einzuheimsen, und das nicht nur in unseren Augen, sondern auch in deinen eigenen. Du erschlägst uns mit deinem Gutsein. ... Du hast um das Ganze einen Palast errichtet, in dem du dich gut eingefühlt hast, ein ganzen System, und deshalb hast du dich so benommen."

 

Die Geschichten berühren das Innerste des Inneren, fragen, warum die Menschen so sind, wie sie sind. Und lassen doch immer unterschiedliche Sichtweisen zu, was auch am Anspruch des Ich-Erzählers liegt:

"Ich bin Schriftsteller, ich muss alle Möglichkeiten ausloten. Wir reden hier nicht auf einem Aktivisten-Meeting, sondern hinterfragen, was die Menschen sind und wozu sie fähig sind."

 

Interessant sind auch die Kipppunkte. Welches Ereignis und welche Reaktion darauf führten dazu, dass eine Befreiung aus einer Situation möglich wurde? Welches Ereignis, oft erst Jahre später erkannt, führte zum Ende einer Liebesbezie-hung? Verrat ist hier nur ein Stichwort, es gibt viele andere Gründe.

 

Und der zweite Hauptsatz der Thermodynamik?

"Jedes geordnete System tendiert zur Entropie, die kleinste Bewegung reicht aus, um alles auseinanderfallen zu lassen. Wenn das für das gesamte Universum gilt, gilt es auch für menschliche Beziehungen."

 

Es geht in diesen Erzählungen nicht um Bloßstellung.

Es geht um die Auslotung der Tiefen, um Halte- und Fliehkräfte. 

Der Ton kann hier kein zarter oder sentimentaler sein, dazu ist die Sache zu ernst. Er ist aber vielfältig, denn jede Person erzählt mit ihrer eigenen Stimme und Tonlage, der Ich-Erzähler fängt sie ein, gibt sie wieder.

Wie war das nun mit der Zusicherung, nichts würde jemals nach außen dringen? Woher nehmen die Schriftsteller ihr `Material´?

"... dann kehrte ich zu unseren Geschichten zurück. Ich versuchte mich an jede einzelne zu erinnern, die wir gehört hatten, und die Essenz aus ihnen herauszufiltern. Um sie nicht zu vergessen, bevor ich sie aufschreiben konnte."

 

Darum geht es, um die Essenz.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Drago Glamuzina:

Der zweite Hauptsatz der Thermodynamik

Aus dem Kroatischen von Klaus Detlef Olof

Folio Verlag, TransferBibliothek, 2023, 176 Seiten

(Originalausgabe 2021)