Ingeborg Gleichauf - Alles ist seltsam in der Welt

Gertrud Kolmar. Ein Porträt

Gertrud Kolmar ist eine der viel zu vielen vergessenen Dichterinnen, denen ein fester Platz im Kanon der Literatur zusteht. Das genaue Porträt Ingeborg Gleichaufs trägt hoffentlich dazu bei, die Schriftstellerin, die Lyrik, Dramen und kunstvolle Briefe ver-fasste, ins Licht zu rücken. Geboren wurde Gertrud Kolmar 1894 in Berlin, sie starb 1943  in Auschwitz. Der "Gefahr, alles vor dem Horizont dieses frühen, gewaltsamen Todes zu lesen" entgegenzutreten, ist "die Motivation für dieses Buch", so Ingeborg Gleichauf. 

Das ist ihr gelungen, denn sie geht sehr ausführlich auf das facettenreiche Werk Kolmars ein, verwebt es in die Biografie, schält aus vielen Dokumenten die Dichterin heraus, die sie ist: "Gertrud Kolmar ist, indem sie die Dichterin ihres Lebens ist, eine Dichterin des Lebens überhaupt."

Dieses Leben und diese Dichtung zu entdecken gleicht einer spannenden Reise, engagiert und fundiert angeleitet von Ingeborg Gleichauf.

 

Gertrud ist die Erstgeborene, ihr folgen drei Geschwister.

Die zum guten Bürgertum gehörende jüdische Familie lebt in einer Villa mit großem Garten. Hier erwacht schon früh Gertruds Liebe zur Natur, zeitlebens bewegt sie sich lieber draußen als in der Stadt. Vor allem aber prägt die Erfahrung dieses Freiraums, sich aus beengten Verhältnissen heraus  "in den freien Raum der Fantasie" hinüberretten zu können, ihr ganzes Sein.

 

Gertrud erlernt den Beruf der Erzieherin, arbeitet in verschiedenen Familien. Später legt sie ein Examen als Übersetzerin ab. Sie pflegt die Mutter mehrere Jahre bis zu deren Tod, kümmert sich um den Vater, mit dem zusammen sie 1939 in ein sogenanntes "Judenhaus" zieht.

In den Jahren 1941 und 1942 verrichtet sie Zwangsarbeit in der Rüstungsindustrie, auch hier "erfüllt sie ihre Pflichten, wie sie es immer getan hat."

 

Obwohl fest in das tägliche, tätige Leben eingebunden, erschafft sie mit ihrer grenzenlosen Fantasie ein sehr umfangreiches Werk. In ihm lassen sich Spuren ihrer Biografie ablesen, doch sie ist keine Dichterin der Innerlich-keit. Und sie versteht es, persönliche Erfahrungen "in eine überpersönliche Erlebniswelt" zu heben.

 

"Gertrud Kolmars Schreiben ist nur in Ansätzen auto-biographisch zu nennen. Es geht Kolmar nicht darum, sich selbst zu finden über den Prozess des Schreibens. ... Sie spricht für die Stummen und durchbricht das ihr von den äußeren Umständen auferlegte Schweigen. Im Sprechen, in der Sprache erschafft sie sich ihr Leben und verbindet sich mit all den Wesen, die nicht sprechen können oder denen es verboten ist. ... Ein Ich, welches sich in eine unendliche Vielfalt an Figuren, Dingen, selbst Tieren und Pflanzen verwandeln kann, ist nicht dingfest zu machen, will es auch gar nicht."

 

Ingeborg Gleichauf taucht in ihrem Porträt tief in die Wort-Bilder der Dichterin ein. Sie geht nicht streng chronologisch vor, sondern widmet ihre Kapitel verschiedenen Aspekten: der Prosaautorin, der Lyrikerin, Dramatikerin, der Briefe-schreiberin. Sie erkundet die Orte, an denen Gertrud Kolmar lebte und arbeitete, befragt ihre Lektüre, zieht Verbindungs-linien zu ihren "dichtenden Schwestern".

Sie behält einen klaren Blick, kommentiert eher, als dass sie interpretiert, hält sich sehr genau an das, was geschrieben steht. 

 

Viele Gedichte Kolmars sind eingefügt, ebenso Auszüge aus den umfangreicheren Texten, wie den Robespierre oder Napoleon gewidmeten Dramen. Diese Passagen und eine große Zahl an eingearbeiteten Zitaten schaffen für die Lesenden die Möglichkeit, es der Porträtistin gleich zu tun, und in einen Dialog mit dem Werk Gertrud Kolmars zu treten. 

 

Es ist schwierig, unter all den Texten einen auszuwählen, den man repräsentativ nennen könnte, dafür ist das Werk zu vielfältig. Dieses Bild der Fahrenden reflektiert jedoch gut die geistige und dichterische Welt Gertrud Kolmars:

 

 

Die Fahrende

 

Alle Eisenbahnen dampfen in meine Hände,

Alle großen Häfen schaukeln Schiffe für mich,

Alle Wanderstraßen stürzen fort ins Gelände,

Nehmen Abschied hier; denn am anderen Ende

Fröhlich sie zu grüßen, lächelnd stehe ich.

 

Könnt´ ich einen Zipfel dieser Welt erst packen,

Fänd ich auch die drei andern, knotete das Tuch,

Hängt´ es auf einen Stecken, trüg´s an meinem Nacken,

Drin die Erdenkugel mit geröteten Backen,

Mit den braunen Kernen und Kalvillgeruch.

 

Schwere eherne Gitter rasseln fern meinen Namen,

Meine Schritte bespitzelt lauernd ein buckliges Haus;

Weit verirrte Bilder kehren rück in den Rahmen,

Und des Blinden Sehnsucht und die Wünsche des Lahmen

Schöpft mein Reisebecher, trinke ich durstig aus.

 

Nackte, kämpfende Arme pflüg´ ich durch tiefe Seen,

In mein leuchtendes Auge zieh´ ich den Himmel ein.

Irgendwann wird es Zeit, still am Weiser zu stehen,

Schmalen Vorrat zu sichten, zögernd heimzugehen,

Nichts als Sand in den Schuhen Kommender zu sein."

 

 

Jedes einzelne Gedicht Gertrud Kolmars ist auf faszinierende Weise eine Spieglung der ganzen Welt.

Die Dramen zeugen von ihrem großen geschichtlichen Interesse. In ihnen entwickelt sie eine ganz persönliche Sicht auf die Ereignisse, die eindeutig eine politische Dichterin zeigen. 

Ihre Briefe, die meisten davon sind an ihre Schwester Hilde gerichtet, sind ein eigenständiger Teil ihres Werkes.

"Kolmars große Begabung, Dinge zum Sprechen zu bringen, über die Sprache der Dinge eine Welt zu evozieren" zeigt sich hier deutlich, denn auch hier schreibt sie "als Dichterin". 

 

Gertrud Kolmars Texte haben im Lauf der Jahrzehnte keinerlei Staub angesetzt. Sie sind geprägt von tiefer Nachdenklichkeit und Menschlichkeit, von großem Verständnis und Können, sie sind völlig zeitlos.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Ingeborg Gleichauf: Alles ist seltsam in der Welt

Gertrud Kolmar. Ein Porträt

AvivA Verlag, 2023, 205 Seiten