Annett Gröschner - Schwebende Lasten

Der Titel ist wunderbar gewählt für die Lebensgeschichte "der Bllumen-binderin und Kranfahrerin Hanna Krause, die zwei Revolutionen, zwei Diktaturen, einen Aufstand, zwei Weltkriege und zwei Niederlagen, zwei Demokratien, den Kaiser und andere Führer, gute und schlechte Zeiten erlebt hat ...". Von 1913 bis in die Mitte der 1990er Jahre reichte dieses Leben,    über dem zahlreiche Lasten schwebten, und die als Kran-fahrerin Schwerstes bewegte.

 

Hanna ist Blumenbinderin mit Leib und Seele. Ihren Händen entspringen die allerschönsten Kreationen, sei es ein dicht gebundener Barockstrauß, Braut- oder Grabschmuck oder kleine "Versöhnungssträuße" für die Ehefrauen.

 

Letztere verkauft sie eine zeitlang als fliegende Händlerin freitagabends in Kneipen, wenn die Männer mal wieder einen Teil des Lohns gleich in Bier angelegt oder beim Spiel verloren hatten. Als sie auf diese Weise die Kasse aufzu-bessern versucht, ist sie bereits Mutter eines Sohnes. Diesen lässt sie dann bei ihrer Schwiegermutter, denn ihr Mann Karl besucht selbst sehr gerne eine Kneipe - er verträgt leider kein Flaschenbier, das könnte er zu Hause trinken.

 

Hanna ist stolze Eigentümerin von "Krauses Blumenhaus", ihrem eigenen Laden im Knattergebirge, einem Arbeiter-viertel in Magdeburg. Diesen eröffnete sie gegen den Willen ihrer Halbschwester Rosa, der sie lange Jahre in ihrem Laden zur Hand ging, nun könnte sie Rosa zur Konkurrenz werden.

 

Als Hanna vier und ihre Schwester Liese sechs waren, verstarb deren Mutter. Der Vater, Mutters zweiter Ehemann,  war schon davor weitergezogen, an ihn hat Hanna keine Erinnerungen. Sie weiß nur, dass er ein "Polacke" war, wie Rosas Mann nicht müde wird, zu betonen. Rosa und Walter nehmen die Mädchen zu sich, eine unbeschwerte Kindheit ist es nicht und in ihrem ganzen Leben wird es wenige unbe-schwerte Tage geben.

 

"Am Morgen des 3. September 1938 wachte Hanna schon um halb sechs auf, weil ihr übel war ... Gerade mal 25 und schon das sechste Mal schwanger. Zwei Kinder, eine Fehlgeburt, zwei Abtreibungen und das hier: mal sehen. Heute war ihr Geburtstag."

 

Johannes, Elisabeth, Barbara, Selma, die Mädchen werden den Krieg überleben, eigene Wege gehen, Berufe erlernen, Kinder bekommen. Johannes fällt einem Angriff auf Magde-burg zum Opfer, Elsabeth berichtet:

"Plötzlich ist er stehengeblieben, hat die Arme ausgebreitet und ist davongeflogen. Bis das Feuer ihn verschluckt hat."

Dass sie ihren Sohn nicht begraben konnte, liegt Hanna bis zum Ende ihres Lebens auf der Seele. Sie hört auch bis ins hohe Alter nicht auf, nach ihm zu suchen.

 

Annett Gröschner erzählt Hannas Geschichte chronologisch. Die Kapitel tragen als Überschrift den Namen einer Blume, ein paar wenige die eines Insekts. Diese Blumen sind Teil eines großen Straußes, der nur auf einem holländischen Gemälde des 17. Jahrhunderts existiert. Dieser Strauß zieht sich durch Hannas Leben.

Eines Tages kam ein Herr in ihren Laden, der ihr dieses Bild zeigte, und sie beauftragte, den Strauß genau so zu binden. Das ist nicht möglich, denn die Blumen blühen zu unter-schiedlichen Zeiten, der "Maler muss die Blumen aus dem Gedächtnis ... gemalt haben", antwortet Hanna.

Sie soll es trotzdem versuchen. Er zahlt ihr einen Vorschuss, Hanna arbeitet eine Nacht lang und macht es so gut wie möglich. Der Mann kommt nie wieder in ihren Laden. Vielleicht wurde er abgeholt oder musste überstürzt fliehen? Vielleicht blüht ihr das als Halbpolin auch bald?

 

Die Politik und das Zeitgeschehen bestimmen Hannas Leben. Sie verliert ihren Sohn, die Familie wird ausgebombt, eine lange Zeit verbringen sie auf dem Land, wo Hanna sich niemals wohl fühlt. Sie weiß nicht, wie sie die Kinder durch die Hungerjahre bringen soll. Ihren geliebten Blumenladen musste sie schon lange aufgeben, mit vierzig fängt sie eine Ausbildung zur Kranfahrerin an. Frauen in Männerberufen, ein Projekt der Parteiführung der DDR, an dem Hanna teilnimmt. Sie führt auch diesen Beruf gewissenhaft aus, sie hat Ausdauer und das nötige Fingerspitzengefühl.

 

"Bald nannte sie ihren Kran Mimi, wegen der behänden Lauf-katze. Sie redete mit Mimi, wie sie mit den Blumen geredet hatte. Und nicht selten dachte sie, dass sie mehr mit ihrem Arbeitsgerät redete als mit Karl."

 

Als sie 1953 im Werk anfängt, liegt die jüngste Tochter Judith, geboren 1949, im Führerhaus des Krans zu Hannas Füßen.

Sie legt eine Decke über das Kind und macht "dann alles mit den Händen (...), das Vor- und Zurückfahren, das Bremsen und Starten, das Heben und Senken der Last. Über dem gleichmäßigen Rattern des Krans schlief Judith ein."

 

Die Zitate lassen erkennen, auf welch fast sachliche Art die Autorin von Umständen erzählt, die dramatisch sind.

Auch die Arroganz der Menschen aus dem Westen fasst Annett Gröschner in einem Satz perfekt zusammen:

"Das sind aber wirklich Fickzellen mit Fernheizung", so ein Herr, der den neuen Eigentümer des Hauses, den "Fond einer westdeutschen Landesbank", repräsentiert.

 

Dieser Stil entspricht Hannas Leben: was auch immer passiert, sie darf sich niemals dem Schmerz ergeben und sich gehen lassen oder laut klagen, sie muss weitermachen, sie ist für andere verantwortlich. Sie kann/darf/will sich selbst nicht in den Vordergrund stellen, das Wort ICH kennt sie gar nicht.

 

Ihr einziger `Luxus` ist ihre Liebe zu den Blumen, wo immer es geht, legt sie ein Beet an, bis ans Ende ihres Lebens.

 

"Einsam fühlte sie sich zwischen den Pflanzen und Klein-tieren nicht. Einsam war sie oft inmitten der Töchter und Enkelkinder. Die Pflanzen redeten mit Hanna und sie mit den Pflanzen."

 

Ganz kurz vor ihrem Tod bindet Hanna den Strauß, den sie auf der Postkarte immer vor Augen hatte, die Karte über-dauerte die Jahrzehnte als Lesezeichen in ihrem Kochbuch.

Damit schließt sich ein Kreis, der in seinem Inneren unend-lich viele Kreise einschließt.

 

Eigentlich mag ich die Formulierung `zum Leben erwecken´ nicht, eigentlich. Hier ist sie angebracht, denn Annett Gröschner erweckt hier eine Frau zum Leben, gibt ihr Kontur und Charakter - und mit ihr ein ganzes Jahrhundert.

Zugleich ist der Roman eine Wertschätzung all der Frauen, die, wie Hanna, mit der Geschichte des 20. Jahrhunderts zurecht kommen mussten, zurecht kamen.

Er ist eine Geschichte der sogenannten kleinen Leute, die doch Großes leisten.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Annett Gröschner: Schwebende Lasten

C.H. Beck Verlag, 2025, 282 Seiten