Nino Haratischwili - Löwenherzen

"Löwenherzenehrenwort!", so das letzte Wort des Buches - wenn das kein Versprechen ist! 

Nino Haratischwili schickt in ihrem Bühnenstück, das nun als illustriertes Buch vorliegt, einen Plüschlöwen auf Weltreise. Er stammt aus einer Fabrik in Bangladesch, genäht von Anand, einem achtjährigen Jungen, und auf wundersame Weise kehrt der Löwe genau dorthin zurück. Etwas zerrupft und müde, aber reich an Erfahrungen.

 

Es ist keine plüschige Wohlfühlgeschichte, die die Autorin hier erzählt. Denn Anand würde lieber zur Schule gehen, als für den "Chinamann" zu arbeiten. Dieser treibt ihn an, ihm bleibt kaum Zeit, den Löwen ordentlich fertigzustellen. Deshalb hat er auch ein schiefes Auge, was den Löwen zwar stört, aber sein Erkennungszeichen ist.

Viel lieber als zu nähen, taucht Anand in seine Phantasiewelt ab. Er imaginiert sich als den zukünftig größten Zauberer, die Eingangsszene zeigt einen Zirkus, in dem er auftritt. Mit dabei ist natürlich der Löwe, der durch einen brennenden Reifen springt.

Vom Chinamann herb in die Wirklichkeit zurückgeholt, hat Anand gerade noch Zeit, einen Brief an Gott in den Löwen einzunähen. Denn Gott wohnt doch bestimmt in "Oropa", wohin der Löwe bald reisen wird. 

Er schreibt über sich, seinen Bruder und seine Mutter, die momentan im "Haus der Freude" in Deli ist, weil sie ihren "Bauch vermieten" möchte. Neun Monate wird sie weg sein, so lange müssen er und der zwei Jahre ältere Bruder alleine zurecht kommen. Schreiben gelernt hat er bei Miss Jones, die für eine "Engio" arbeitet. Anand formuliert seine Bitte und zählt auf, was er selbst dafür tun möchte, oder nicht mehr tun wird, damit sie in Erfüllung geht.

 

Es sind die Dinge, die wohl alle Kinder auf der ganzen Welt anführen würde: mit dem Fußball keine Fensterscheiben mehr kaputt machen, gut in der Schule sein etc.

Damit verweist Nino Haratischwili auf das Recht auf Kind-heit, das alle Kinder dieser Welt haben sollten.

 

Die nächste Station des Löwen ist Deutschland. Emma spendet für eine Aktion, die ihre Schule durchführt, ihre "Besitztümer", das ist alles, was sie hat. Sie nimmt die Themen Teilen, Hergeben, Großzügigkeit sehr ernst, zum Leidwesen ihrer Eltern. Die sind entsetzt, dass Emma wirklich alles hergibt, was sie hat. Die alten Spielsachen vom Dachboden hätten doch gereicht.....

 

So kommt der Löwe mit dem schiefen Auge in den Senegal, von dort aus nach Mali, später reist er unter größten Gefahren nach Spanien und schließlich Frankreich. Über Indien, wo er plötzlich neben dem Bett von Anands Mutter liegt, kehrt er am Ende seiner langen Reise zurück zu Anand. 

 

In jedem Kapitel thematisiert die Autorin ein anderes Thema. Diese sind der große Komplex der Schlepper, die Hoffnungen verkaufen, Dürre als Fluchtursache, Kinderehen, Leih-mutterschaft - alles keine leicht verdauliche Kost. Aber jedes Kapitel endet mit einem positiven Ausblick: Freundschaften entstehen, es wird nicht nur Tauschhandel betrieben, es werden auch Geschenke gemacht, ein Junge übersetzt seine traumatische Flucht in eine Reise mit dem Raumschiff durch das Weltall auf der Suche nach einem neuen Planeten. Er schafft es, weil er ein Löwe ist. Das Plüschtier hat seine Kräfte auf Amari übertragen, so konnte er auch den "Seeunge-heuern", den Ozeanriesen, trotzen. Am Ende der Geschichte verliert er den Löwen, dafür findet er eine Freundin, ein Mädchen, das ebenfalls eine gefährliche Flucht hinter sich hat.

 

Jedes Kapitel, jede Geschichte, wurde von kongenial von Julia B. Nowikowa illustriert. Die Bilder sind wild und ausdrucks-stark, ein jedes hat einen zart mit Bleistift gezeichneten Part, ein jedes erzählt eine ganze Geschichte in unendlich vielen Details, die man nach und nach entdeckt. Sie erzählen von Hoffnungen, Traurigkeit und Angst, von Mangel und Über-fluss, von Mut und Lebensfreude, vom phantastischen Reichtum der kindlichen Vorstellungskraft. Auf dem letzten Bild ist der Löwe von Schmetterlingen umflattert zu sehen, jenen Symbolen für Verwandlung, Schönheit und Freiheit. 

Die Bilder zeigen Kinder mit Löwenkräften im Herzen. 

 

Die Kinder, deren Leben, je nachdem, wo sie zufällig geboren wurden, ganz unterschiedlich verläuft, haben sehr vieles gemeinsam. Sie leben die Werte, von denen die Erwachsenen sprechen.

Diese kommen hingegen gar nicht gut weg. Das eine sagen, das andere tun, gnadenlose Ausbeutung als Geschäftssinn deklarieren, Traditionen pflegen, die den Menschenrechten widersprechen - fast alle Erwachsenen in diesem Buch glänzen durch ausgeprägten Egoismus.

 

Sie haben das Recht, ein "Löwenherzenehrenwort" zu geben, ganz und gar verloren. Zum Glück liegt die Zukunft in den Händen der Kinder. Bleibt die Hoffnung, dass sie nicht in die "Chamäleonsfarbe der Menschen getaucht" werden, wie es der Dichter Friedrich Hölderlin ausdrückt, sondern dass sie ihre Freiheit zur Solidarität weiterleben.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Nino Haratischwili (Text) & Julia B. Nowikowa (Illustration): Löwenherzen

Frankfurter Verlagsanstalt, 2024, 80 Seiten Hardcover