Felix Heidenreich - Der Diener des Philosophen

Der Diener des Philosophen Immanuel Kant (1724-1804) ist der ehemalige Soldat Martin Lampe. Kant hält ihn für äußerst einfältig, um nicht zu sagen für einen Trottel. Doch dieser Franke hat einen Plan: "Die Rolle, die er mir zugewiesen hatte, spielte ich ihm vor. Doch der trottelige Diener, den er in mir sehen wollte, sollte ihm zugleich die empfindlichsten Niederlagen auf dem Felde der Philosophie zufügen."

 

Lampe ist derjenige, der Kants hochfliegende Gedanken einer Art Realitätsprüfung unterzieht. Mit schlichten Bemerkungen schafft er es immer wieder, den Denker komplett aus dem Konzept zu bringen, manchmal so sehr, dass Kant in seiner Verteidigungsposition nur noch Unsinn redet.

Für Unsinn hält noch ein anderer mitunter die Reden Kants, zum Beispiel wenn dieser in einer Vorlesung über Walfang spricht und damit "das Verhältnis von Mensch und Vernunft" beweisen möchte: sein Freund und erster Biograph Ehregott Wasianski.

 

Er ist neben Lampe die zweite Figur, die ein sehr spezielles Verhältnis zu Kant hat. Nicht nur will Wasianski unbedingt verhindern, dass der Philosoph heiratet, das würde ihn von seinem im Entstehen begriffenen genialischen Werk ablenken, nein, er bildet sich tatsächlich ein, Kant "gemacht" zu haben:

 

"Hast du nie bemerkt, in welchem Maße du mein Produkt bist? dachte Wasianski. Ich habe dich gemacht."

 

Der bedauernswerte Kant wird also von zwei Seiten in die Zange genommen, von Lampe, der ihn verwirren will, was ihm auch gelingt, und von Wasianski, der den Philosophen manipulieren möchte.

 

Zwei Handlungsstränge also, die beide von den dunklen Seiten des Zeitalters des Lichts und der Aufklärung erzählen, davon, welche Reaktionen die Herabsetzung eines Menschen auslösen, oder wie nachhaltig Rache sein kann. 

 

Der Roman beginnt mit einem Ausflug per Kutsche aufs Land. Gesprächsthema während der Fahrt ist nebst großen Fragen der Politik und des Zeitgeschehens die Ehe. Wasianski ist alarmiert. Abends schleicht er in einen Schuppen, findet ein Stück passendes Holz, nimmt es an sich. Was will er damit? "Es wird darauf ankommen, dass ich den Mut finde, entschlossen zuzuschlagen, dachte er."

 

Damit legt Felix Heidenreich, Philosoph und Politikwissen-schaftler, eine weitere Spur in den Roman, denn die Gedan-ken Wasianskis lassen die Planung eines kriminellen Akts vermuten.

 

Der Autor verwebt Fakten und sprühend frische Ideen phantastisch gut ineinander. Er geht nicht chronologisch vor, sondern komponiert einen Roman, der über eine innere Logik verfügt und nach und nach durch verschiedene Perspektiven und Stimmen ein lebendiges Bild entstehen lässt.

Er führt weitere Freunde des Philosophen ein, wichtig ist vor allem Joseph Green, denn er macht ihn mit dem Werk David Humes bekannt. Diese Schrift des schottischen Aufklärers verändert das Denken und Leben Kants nachhaltig.

Ein unglaubliches Ereignis, das mit einer jungen Dame zu tun hat, erschüttert den Philosophen vollends. 

 

Es gibt mehrere Geburtsstunden, mehrere Zufälle, die zu dem heute noch in jedem Philosophiestudium behandelten und in die allgemeine Weltanschauung eingesickerten Werk führen. Das Verdienst des Romans, der philosophischen Anspruch und Lebenstauglichkeit miteinander vermählt, ist es auch, den Menschen Kant darzustellen, gespiegelt in den beiden Trabanten, die um ihn kreisen, und die ihrerseits lebendig gezeichnete Figuren sind.

 

Ohne Zweifel war Immanuel Kant ein Genie. Aber auch eins, das die Realität nicht sehen wollte. Einer Erzählung über Kriegserlebnisse Lampes entgegnet er:

"Vielleicht entspricht Euer Erlebnis nicht ganz dem, was man für gewöhnlich im Krieg erlebt. Bei tapferen Soldaten stellt sich im Kampf doch das Bewusstsein des Erhabenen ein."

Erhabenheit in Schlamm und Chaos?

 

Oder die kategorische Ablehnung der Lüge, auch der Notlüge: 

"Kant aber saß in seinem Kämmerchen und wollte mit dem Lügenverbot lieber die Menschheit retten, als einen zu Unrecht von Verfolgern bedrohten Menschen. Konnte das ernst gemeint sein? Sollte das ein Witz sein, bloße Ironie?" Oder ist es nur weltfremd?

 

Es wird in diesem Roman nicht der große Philosoph demontiert, es werden die Schattenseiten und Abgründe

der Vernunft-Religion ausgeleuchtet, "Scharfsinn und bodenlose Dummheit" nebeneinander gestellt. 

 

Lampe und Wasianski werden sich der späten Notizen Kants bemächtigen, der Biograph wird sich seines Lebens bemäch-tigen. Er wird "publikumswirksame Memoiren" schreiben, "die Menschheit sollte einen Kant kennenlernen, den er allein sich ausdachte". Späte Rache oder Ehrenrettung?

 

Um die Rolle der Phantasie in der Erinnerung, um die der Unvorhersehbarkeiten und Unerklärlichkeiten in der Realität, um menschliche Schwäche und Eitelkeit, um die Versuche, das Leben zu kategorisieren und nicht zuletzt um Liebe und Tod (doch nicht mal der ist wirklich gewiss, wie die junge Dame zeigt) geht es in diesem wunderbaren Roman. 

 

Er ist nicht nur für Kantkenner oder Philosophieliebhaber ein den Geist kitzelndes Vergnügen, er ist ein herrliches Stück über die (komische) Tragödie des Menschseins.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Felix Heidenreich: Der Diener des Philosophen

Wallstein Verlag, 2023, 149 Seiten