Judith Hermann - Aller Liebe Anfang

Es geht um Stella. Um Jason.

Um ihre Beziehung, die in einem Flugzeug beginnt.

Ist dort, über den Wolken, der Anfang aller Liebe, im Ungreifbaren, Unbe-greiflichen? Und was wird aus der Liebe, wenn sie auf die Erde kommt?

Es geht außerdem um Mister Pfister,

ein unscheinbarer Nachbar, etwas jünger als Stella.

 

Stella ist jetzt siebenunddreißig,  Krankenschwester, sie arbeitet für einen ambulanten Pflegedienst, betreut drei hilfsbedürftige Menschen.

Jason, ihr Mann, ist so etwas wie ein mobiler Handwerker.

Er baut Häuser, irgendwo, meist ist er längere Zeit weg.

Stella freut sich, wenn er nach Hause kommt, sie freut sich auch, wenn er wieder geht. 

Die gemeinsame Tochter Ava ist vier, ein aufgewecktes, neugieriges Kind, sehr sympathisch, man möchte gerne ein paar Stunden mit ihr zusammen verbringen. Sie ist nicht eigensinnig, aber entschieden, weiß auch schon, mit wem sie ihr Leben verbringen möchte: mit Stevie aus dem Kindergarten.

 

Die Familie lebt in einem Einfamilienhaus mit Garten.

Die Nachbarn haben keinen Kontakt untereinander, man bleibt für sich. Stella geht ihrer täglichen Routine nach, bringt Ava in den Kindergarten, besucht ihre Patienten, hält das Haus in Ordnung, hört Radio, liest.

 

Ein Lichtblick in diesem Leben sind die langen Telefonate mit ihrer besten Freundin Clara. Noch vor zehn Jahren lebten sie zusammen in einer Stadtwohnung, gingen aus, hatten Besuch, hielten alles für sehr wichtig. Nun lebt Clara tausend Kilometer weit weg, ist verheiratet und hat zwei Kinder, die sie "auffressen."

Es wird nicht ausgesprochen, aber trotzdem sehr deutlich: bei beiden sahen die Träume anders aus als die jetzige Realität, obwohl Stella an Clara schreibt: 

"Was wir wollten, ist das, was wir haben - Mann, Kind, Dach über dem Kopf, ein abgeschlossenes Leben."

 

Stella ist nicht unglücklich, sie hat sich zurückgezogen in eine Zufriedenheit, die (auch) aus aufgegebenen Wünschen besteht. 

 

Judith Hermann beschreibt Stellas Leben ganz präzise.

Ihre Umgebung erscheint wie auf einem Bild dargestellt,

das Haus, die Einrichtung, der Garten.

Zwischen Beschreibungen schieben sich Stellas Gedanken, oft Reflexionen auf das, was sie sieht.

 

Stella wirkt ständig in sich gekehrt, über ihrem ganzen Leben scheint ein Firnis zu liegen, zwischen ihr und "dem Leben" scheint eine Glocke aus Glas zu sein.

Gerne sitzt sie im Wintergarten, schaut aus dem großen Panoramafenster in den Garten oder aus dem kleinen Fenster neben der Tür. In die Tür eingelassen sind drei Scheiben aus Bleiglas, Geschenke von Clara zur Geburt Avas, zur Hochzeit, zum Umzug. Sie sind undurchsichtig.

 

Eines Tages klingelt es an der Tür. Stella geht an die Gegen-sprechanlage.

"Er sagt, guten Tag. Wir kennen uns nicht. Sie kennen mich nicht. Ich kenne Sie aber vom Sehen, und ich würde mich gerne mal mit Ihnen unterhalten. Haben Sie Zeit.

Das ist keine Frage. Keine wirkliche Frage...Haben Sie Zeit.

...Soll das ein Witz sein? Sie ist sich fast nicht sicher, ob sie ihn richtig verstanden hat. Der Mann draußen steht leicht gebeugt vor ihrer Klingelanlage und wartet auf eine Antwort. Er wiederholt das nicht noch mal. Das sagt er nicht noch einmal, sie hat schon richtig verstanden.

Also hält sie den Hörer fest und sagt laut und deutlich, ich hab keine Zeit. Geht nicht. Verstehen Sie, was ich meine? Wir können uns nicht unterhalten, ich hab nämlich überhaupt keine Zeit, gar keine.

Schade, sagt der Mann vor ihrem Haus. Na dann. Vielleicht ein anderes Mal."

 

An der Wohnungstür von Claras und Stellas WG hing ein Gedicht, es hieß Hausordnung. Die letzte Zeile darin lautete: 

Jeden einlassen, wer auch kommt.

Daran erinnert sich Stella, es gilt nicht mehr.

 

Mister Pfister klingelt nun jeden Tag, immer wenn Stella alleine ist. Bald wirft er täglich etwas in den Briefkasten. Diese Dinge sammelt Stella in einem Schuhkarton, sie schaut sie sich nicht an. Aber sie denkt immer häufiger über Mister Pfister nach. Fragt schließlich einen anderen Nachbarn, einen Fahrradmechaniker, nach ihm, kann bald auch dem Wunsch, an seinem Haus vorbeizugehen nicht widerstehen.

Sprich: Mister Pfister wird immer realer, wird Teil von Stellas Leben. Jasons Bitte, diesen Mann einfach zu ignorieren, kann sie nicht erfüllen.

 

Im letzten Drittel ändert sich das Verhalten des Stalkers: 

er schreibt seinen Namen an Stella und Jasons Briefkasten,

er besucht Ava im Kindergarten, er fragt bei Stellas Arbeitsstelle nach ihr, gibt vor, eine Pflegerin für seine Mutter zu suchen.

Er bleibt nun nicht mehr vor der Tür und wirft Botschaften ein, er beginnt als Person in Stellas Leben zu treten, körperlich zu werden.

 

Mit diesem Akt ändert sich Stellas Verhalten. Zuerst wird sie im Traum aktiv, spricht mit ihm, schaut sich sein Haus an, er kommt in ihr Haus und sie hinterfragt die Vorstellungen, die sie sich von ihm gemacht hat (Alkoholiker, krank etc.).

Dann der Traumgedanke, "dass Mister Pfister ein ganz anderer ist, möglicherweise jemand, der gar nicht krank oder anders krank ist, als sie sich das vorstellt; was sagt ihre Vorstellung eigentlich über sie aus? Möglicherweise trinkt Mister Pfister keinen Tropfen Alkohol. Telefoniert jeden Abend mit seiner Freundin ... und Stellas Vorstellung ist naiv. Dumm. Aber sind sie sich dann nicht gleich, Stella und Mister Pfister? Ist das dann nicht etwas, was sie miteinander verbindet, trotz alledem." Denn sie weiß auch, sie ist nicht die Stella, die er sich vorstellt.

 

Und auch nicht die, die Jason in ihr sieht, oder Clara.

Wie sieht sie sich selbst?

 

Bis zu dem Punkt, an dem der Roman ziemlich brachial endet und man sich fragt, ob ein Knoten wirklich durchschlagen und keinesfalls gelöst werden kann, könnte Mister Pfister eine Phantasie sein - allein sein Name ist eine Chimäre. Ein Schatten aus dem Leben vor dem Leben in der Siedlung am Stadtrand, ein Erinnerungsfetzen, von einem Botschafter gebracht, der sich als Mahner in die kleine Familie einschleicht, ein Wunschgedanke, der Stella zwingen will, ihr Glashaus zu verlassen und diese kleine, müde Zufriedenheit abzuschütteln - Ava wäre dafür die richtige Person, aber es gelingt ihr nicht, wahrscheinlich ist sie noch zu klein, zu jung, ihre zarten Wurzeln reichen noch nicht an die tief vergrabenen Sehnsüchte Stellas heran. 

 

Stella zeigt den Stalker an, zieht sich mit Ava für eine Weile in das Sommerhaus ihrer Chefin zurück.

Zu Hause geht Mister Pfister an ihrem Haus vorbei, überlegt, ob er klingeln soll.

"Er könnte ihr noch einmal eine allerletzte Chance geben,

die Chance, die Tür aufzumachen wie ein verdammt nochmal ganz normaler Mensch und zu sagen, hallo, schön, dass du vorbeigekommen bist, herein, setz dich, was kann ich dir anbieten. Hat sie eine allerletzte Chance verdient.... Hat sie nicht."

 

Am Ende gibt es Mister Pfister nicht mehr, Stella, Jason und Ava sind weggezogen, der letzte Satz beschreibt das, was Stella sieht, wenn sie aus dem Fenster schaut. Die beiden sind auch nach Jahren noch immer ein Paar, Stella empfindet keine Sehnsucht nach dem Haus in der Siedlung, nach der Zeit damals. Ist das Verrat? fragt sie sich.

 

Judith Hermann wird als Chronistin ihrer Generation gerühmt. 1970 geboren ist sie gute fünf Jahre älter als Stella. Das Thema des Romans ist Rückzug, Abschottung, Aufgabe, Unsicherheit (der Liebe), ein zweifelhafter Befreiungsschlag am Ende. Sprachlich gekonnt wie in ihren Erzählungen umkreist sie ihre Personen, lässt die Umgebung zu einer Schlinge werden, die sich zuzieht.

 

Was Stella mitnimmt, ist vielleicht der Gedanke des Fahrradmechanikers:

"Alles, was du empfindest, findet in dir statt, es gibt nur das "in uns" - nichts sonst. Das ist ernüchternd. Aber auch klar - du bist die Konstante."

 

Vielleicht hätte Stella die Tür öffnen sollen.

 

 

 

 

 

 

Judith Hermann: Aller Liebe Anfang

S. Fischer Verlag, 2014, 224 Seiten

Fischer Taschenbuch, 2015, 224 Seiten