Doris Knecht - Wald

Marian - früher Marianne, aber gekürzt klingt der Name moderner, urbaner - lebt im Haus ihrer verstorbenen Tante, am Rande eines kleinen Dorfes in den Voralpen.

Nicht einmal dieses Häuschen gehört ihr: nachdem die Tante es ihr vermacht hatte, hat sie es ihrer Tochter Kim geschenkt. Zum Glück, denn sonst wäre auch das noch gepfändet worden.

 

Dabei sah alles so gut aus: Marian, die erfolgreiche Modedesignerin, eröffnet ihren ersten Atelier-Laden, in bester Wiener A-Lage versteht sich. Sie hat einen festen Kundenstamm, vor allem ein Kleid, das sie für eine Schauspielerin entworfen hat, die es bei der Berlinale trug, bringt ihr weitere Kundschaft.

 

Lange lebte sie in einer festen Beziehung mit Oliver, einem Architekten. Als diese Liebe eingeschlafen war, trennte man sich ohne große Schmerzen.

Kurz darauf lernt Marian Bruno kennen. Er ist ein charismatischer Philosophieprofessor, bestens vertraut mit allen Arten von Wahrheit und wie man sich Sichtweisen aneignet oder zurechtlegt.

 

In ihn verliebt sie sich bei einem feuchtfröhlichen Abend in einer Szene-Bar und scheint in eine frühpubertäre Phase zurückzufallen. Sie hält an dem Glauben fest, die einzige zu sein, sie ist davon überzeugt, dass er sie heiraten wird, sie denkt nur noch an ihn und vernachlässigt ihr Atelier und das zu einer Zeit, als sie in immer größere finanzielle Schwierigkeiten gerät.

 

Es ist die Zeit der Wirtschaftskrise 2008/09: selbst in Kreisen, in denen Designerkleidung getragen wird, verändert sich etwas. Plötzlich werden Kleider und Anzüge von der Stange salonfähig, genau wie wieder selbst gekocht oder Geld lieber in sichere Anlagen wie Wohnungen investiert wird.

Der teure Shop mit all dem was an sonstigen Kosten zur Miete hinzukommt bricht Marian geschäftlich das Genick.

Sie muss ihre wunderschöne Wohnung verkaufen, die Einrichtung, ihre Kleider - alles was entbehrlich ist, wird gepfändet.

Bruno ist zu diesem Zeitpunkt längst aus ihrem Leben verschwunden.

 

Für kurze Zeit arbeitet sie als Näherin für ein miserables Gehalt, dann wird ihr klar, dass sie ihre Schulden sowieso nie zurückzahlen kann und beschließt, ganz auszusteigen.

 

"Diese vollkommene emotionale Verunsicherung durch Bruno hatte sie beinahe gebrochen, hatte sie von einer nur schwierigen in eine unfähige Person verwandelt, die ihren Untergang erst übersah und sich dann zu wenig wehrte, bis sie sich einfach ergeben hatte. Darum war sie hier, allein, immer ganz nah an der Grenze der Zivilisiertheit und manchmal schon darüber? "

 

Sie zieht in das Haus der Tante. Sie ist vollkommen mittellos, vollkommen allein und überlebt nur, weil sie viele Gläser Eingemachtes im Keller findet. Sie stiehlt dann und wann ein Huhn oder Gemüse auf einem Acker, sie verheizt die Möbel, weil sie kaum Brennholz hat und magert bis auf die Knochen ab. Gnädigerweise bezahlt ihr ihre Schwester den Strom, schickt ihr auch manchmal einen Einkaufsgutschein für den Laden im Dorf oder ein Päckchen mit Seife und dergleichen.

 

Der Roman setzt ein, als Marian den ersten Winter bereits hinter sich hat. Sie konnte im Frühjahr Gemüse anbauen (das Wissen, wie das geht, eignete sie sich aus Büchern an), sie hat eingekocht, hat gelernt, Brot zu backen, schätzt mittlerweile die warmen Wolljacken und -socken (früher bevorzugte sie Funktionskleidung an ihrem epilierten und gesalbten Körper) und hat auch gelernt, mit wie wenig sie auskommen kann.

 

Der Roman verschränkt die Jetzt-Zeit im Dorf mit Erinnerungen an das vergangene Leben als Designerin in der Stadt. Ihre Wünsche und Ansprüche damals, ihr momentanes Leben, das bereits wieder ein bisschen über das reine Über-Leben hinausgeht.

Diese Struktur veranschaulicht durch den Wechsel der Perspektive, wie sehr sich diese beiden Leben voneinander unterscheiden. Und sie zeigt auch auf, wie Marian die Veränderungen reflektiert, die Gegenwart an der Vergangenheit misst. 

 

Zu ihrem Zustand, den sie als vergleichsweise passabel empfindet, trägt ganz wesentlich Franz bei. Er ist eine Art Großgrundbesitzer. Er ist Arbeitgeber, Respektperson, er entscheidet, wer im Dorf geduldet wird.

Er hat ihr eine Angel geschenkt und gezeigt, wie sie damit fischen kann (in dem Stück Fluss, das ihm "gehört"), er lässt ihr regelmäßig eine Fuhre Brennholz liefern, er bringt auch bei jedem Besuch etwas Nützliches mit. Mehl, Zucker, Shampoo. Natürlich nicht ohne Gegenleistung.

 

Franz ist nicht die Sorte Mann, die der früheren Marian auch nur aufgefallen wäre. Geschweige denn sympathisch gewesen.

Als sie ihm anfangs zu Diensten ist, ist das eine rein ökonomische Angelegenheit. Doch sie war dermaßen vereinsamt, dass sie bald auf seine Besuche wartet, Kuchen bäckt, weil er den so gerne isst.

 

Es dauert nicht lange, da steht das Wort HUR an ihrer Tür.

 

"Sie hatte jede Chance, die man ihr geboten hatte, genützt, sie hatte sich weitere Chancen erkämpft. Sie hatte unermüdlich gelernt, und als sie das meiste wusste, hatte sie sich unermüdlich verbessert. Sie war stets sorgfältig gewesen und hatte immer die Übersicht bewahrt. Sie hatte Maß gehalten. Sie hatte nur selten über die Stränge geschlagen. Sie hatte die Arbeit immer zuvorderst gestellt, vor alles andere, selbst vor ihr Kind, denn ihre Arbeit, davon war sie all die Jahre überzeugt, war das Einzige in ihrem Leben, was sie komplett kontrollieren konnte, wo A nach B führte und wo man von B aus vorsichtig C anvisieren konnte. ... Sie glaubte an Zentimeterarbeit, an stabile Fundamente und feste Pfeiler, an das Konservative im Wirtschaftlichen....nicht an das Glück. Glück, im Sinne von glücklicher Fügung, war keine Kategorie für Marian, derlei brauchten nur Faule und/oder Dumme ..."

 

Auch dieser Glaube stellt sich als Irrglaube heraus, aller Fleiß war plötzlich vergebens. Aus einem festgefügten bürgerlichen Leben abgestürzt, ist sie nun auf der untersten Stufe der Leiter angekommen.

Jammern ist ihr fremd, da ist noch die alte, fleißige und ordentliche  Marian, für die "glückliche Fügung" keine Kategorie ist. Sie kämpft: mit den Umständen, die sie hierher gebracht haben, mit sich selbst und ihrer Unfähigkeit zu reagieren im wichtigen Moment, mit ihrer Einsamkeit, mit Franz und ihrer Haltung ihm gegenüber, mit der Kälte und dem Hunger. Mit der Rolle der Frau, in der Stadt und auf dem Land.

 

Das Ambiente, stellenweise auch die Atmosphäre des Romans, erinnern an Marlen Haushofers "Die Wand".

Doch dieser bedrückende Klassiker, in dem eine Frau plötzlich hinter einer undurchdringlichen Glaswand in einem Wald eingeschlossen ist und sich ihr Überleben ebenfalls ganz  alleine erkämpfen und sichern muss, ist wesentlich psychologischer.

Knechts "Wald" schließt in viel größerem Maß die äußeren Umstände, die politischen und sozialen Gegebenheiten mit ein. Der Wald steht auch für die Brüchigkeit der modernen Welt und des Bürgertums nach diversen Wirtschaftskrisen. Er erreicht aber auch eine große Authentizität, da Marian schonungslos ehrlich sich selbst gegenüber ist. 

Sich nicht herausredet auf eben diese Umstände, sondern handelndes - manchmal falsch oder zu spät handelndes  - Subjekt bleibt.

 

Mit ihren knapp vierundvierzig Jahren hat sie nun schon zwei Leben gelebt, die Möglichkeit auf ein drittes zeichnet sich am Ende des Romans ab. Wenn sie diesmal richtig entscheidet.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Doris Knecht: Wald

Rowohlt Berlin Verlag, 2015, 272 Seiten

Rowohlt Taschenbuch, 2016, 272 Seiten