Simone Kucher - Die lichten Sommer

Liz, geboren 1950, und ihre Mutter Nevenka, Jahrgang 1932, sind die Heldinnen dieses Romans, der ihre Lebensgeschichten ineinander spiegelt. Nevenka wuchs in Tschechien auf, kam nach Kriegsende mit vielen anderen Flüchtlingen nach Deutschland. Der Makel "Flüchtling" haftet noch ihrer Tochter an, auch der Geruch der Baracken scheint nicht zu verfliegen.

 

Der Roman setzt mit Liz´ siebzehntem Jahr ein. Seit fünf Jahren wohnt sie mit ihren Eltern und Brüdern in einem Haus, die Zeit davor verbrachte die Familie in einer Baracke. So lange dauerte es, bis für alle Flüchtlinge Häuser gebaut waren, sie eine adäquate Unterkunft hatten. Liz arbeitet seit drei Jahren in der Batteriefabrik, wie viele andere junge Frauen ihres Alters. Der Traum, eine Ausbildung zu machen und Sekretärin zu werden, platzt, weil ihr Vater den Vertrag nicht unterschreibt. Wozu soll ein Mädchen mehr können, als den Haushalt führen?

 

Doch Liz nimmt es erstaunlich gelassen hin. Sie hat gerade Robert kennengelernt, er ist neunzehn, Sohn eines Bauers, arbeitet aber im Büro und hat ein beeindruckendes Auto.

Sie ist achtzehn, als die beiden heiraten, Liz ist bereits im dritten Monat schwanger. Dass die Hochzeit nur im fenster-losen Nebenzimmer der Gastwirtschaft von Roberts Bruder stattfindet, kann sie noch beiseite wischen, nicht jedoch die Worte, die nach zunehmendem Alkoholkonsum durch die Luft fliegen: "Bauern!" "Flüchtlinge!" Liz sitzt in der Mitte zwischen zwei sich fremd und unversöhnlich gegenüber-stehenden Parteien. Die Einheimischen und die  `Rucksack-deutschen´, wie sie in Süddeutschland genannt wurden. 

Nur zu Erinnerung: die Hochzeit findet 1968 statt, der Krieg liegt über zwanzig Jahre zurück, Liz wurde in Deutschland geboren.

 

Der zweite Strang des Romans ist Nevenka gewidmet.

Er spielt in den Jahren 1944 und 1945 in einem tschechischen Dorf. Nevenka geht zur Schule, hilft ihrer Mutter auf dem Hof. Sie hört, wie ihre Mutter Olina gegen die Nazis spricht, den Vater Adam scharf angreift, dass er Geschäfte mit ihnen macht. In der Schule muss sie den Hitlergruß machen, aber im Grunde versteht sie nicht, was vor sich geht. 

Das ändert sich ein bisschen, als wie aus dem Nichts Zena auftaucht. Sie ist mit ihrer Mutter aus Prag in das Dorf gekommen, um ihrem inhaftierten Vater nahe zu sein. Zena erzählt von Heydrich und Lidice, von der Verhaftung ihres Vaters und bringt damit ein Wissen mit, das Nevenka zwar entgegennimmt, aber nicht einordnen kann.

Auch die Tragweite, dass ihr Vater die ganze Familie als "Deutsch" in die Liste des Bürgermeisters eingetragen hat, erfasst sie nicht.

 

Mit Zena zusammen erlebt Nevenka die Ankunft der Soldaten im Mai 1945, die beiden streunen gerade im Wald umher. Sie wissen von der Gewalt, von den Aufrufen zur Rache an den Deutschen, Nevenka trägt die Armbinde mit dem "N" für "Nemka", Deutscher. Aus Spaß oder Freundschaft hat Zena ihr dieses "N" abgenommen, sich selbst überge-streift. Sie wird brutal überfallen von den Soldaten, Nevenka kommt alleine wieder nach Hause, ihre Mutter Olina wartet bereits mit gepacktem Koffer auf sie. 

Dieses traumatische Erlebnis verschweigt Nevenka, wie so vieles andere.

 

Nachdem Liz Robert geheiratet hat, bricht der Vater mit ihr. Nur selten besucht sie mit den bald drei Kindern ihre Mutter. Immer schwerer fällt es ihr, den Alltag zu bestehen.

Die Nerven sind es, sagt man. Dabei leidet sie zunehmend an der Ausgrenzung, die ihr widerfährt.

Sie empfindet größte Freude, als sie im Kirchenchor mit-singen darf, doch nachdem die erkrankte Sängerin wieder da ist, ist für Liz kein Platz mehr. 

Ihr kleiner Sohn hat im Lebensmittelgeschäft einen Schrei-anfall. Die Leute betrachten sie argwöhnisch:

"Und dann brannte in Liz diese Scham. Flammte auf, aus einer anderen Zeit. Plötzlich im Zentrum zu stehen, die Blicke, das Kopfschütteln, das mitleidsvolle Lächeln. Ach Gott. Und bestimmt dachten alle: Das ist doch die, die da aus den Baracken mit dem schreienden Kind."

 

Das schlimmste Erlebnis ist, als sie ein Telefongespräch von Robert mit seinem Bruder mithört. Liz half einen Abend in der Gastwirtschaft des Bruders aus, nun wirft man ihr vor, Geld unterschlagen zu haben. Sie hört ihren Mann sagen:

"`Aber ja, vielleicht.´ Vielleicht. Als gäbe es ein Vielleicht, vielleicht hat sie den Geldschein ja, aus Versehen, jaja, vielleicht." Dass er ihr dies zutraut empfindet Liz als "Dolch-stoß". Es ist ein Verrat, ein Riss, der nicht mehr zu kitten ist.

 

Später wird er mit Genuss den Kindern eine besondere Gutenachtgeschichte erzählen: "Die Mama ist ein Flüchtling."

Immer und immer wieder wird er dies wiederholen.

 

"Warum bleibt sie denn so stumm? Lässt sich das einfach so gefallen? Ist sie schon zu weichgeklopft von diesem täglichen Kampf. Sie kämpft doch jeden Tag, oder nicht? Seit Jahren, immer schon. Und warum kann sie nicht einfach sagen: Nein, ich bin verdammt nochmal kein Flüchtling. Ich bin genauso wie du auf dieser stinkenden Erde hier geboren. In Baracken zwar, aber eindeutig hier. ... Ab wann ist man denn ein Ansässiger?"  

"Eine Mischung aus Wut, Empörung, Verzweiflung und dann auch noch die Verlegenheit steigt wechselhaft in Liz hoch, wenn sie Abend für Abend im Klammergriff dieser Kind-heitsgeschiche steckt, die Robert fortführt, als würde er leichtfüßig durch einen Garten spazieren, nie gesehene Gräser und Blumen entdecken. Und die Kinder lieben diese Geschichte: `Erzähl´s nochmal! Lüchtling!"

 

Liz´ Vater und ihre beiden Brüder verfallen dem Alkohol. Nevenka schafft es irgendwie, ihren Kopf über Wasser zu halten. Vielleicht weil sie nie Glück erwartet oder auch nur erhofft hat.

Liz ist in eine Zeit des Umbruchs hineingewachsen, doch sie lebt ein traditionelles Frauenleben, in dem ihr als zusätz-liches Gewicht ihre Herkunft wie ein Mühlstein um den Hals hängt.

 

Die Kapitel wechseln zwischen dem letzten Kriegsjahr in Tschechien und den Jahren zwischen Mitte der Sechziger und Siebziger in einer süddeutschen Kleinstadt hin und her.

Simone Kucher zeigt Nevenka vor allem als Kind, deutlich geht sie auf die Lebens- und auch die zeitgeschichtlichen Umstände ein. Liz porträtiert sie als junge Frau, Ehefrau und Mutter, in deren Leben sich die gesellschaftlichen Ansichten manifestieren. Und auch das Schweigen ihrer Mutter, denn viel zu wenig weiß sie über deren Schicksal, nie sprechen die beiden Frauen offen miteinander. 

 

Als Liz vorzeitig von einer Kur an der See zurückfährt, ihre Mutter ist schwer gestürzt, denkt sie an Nevenkas Wunsch, anonym bestattet zu werden. Kurz darauf erinnert sie sich an die Frage ihrer kleinen Tochter, was eine Ohnmacht sei. 

"Die Ohnmacht? Eine Ohnmacht ist traumlos. Ohne Geschichten oder Gedanken. So ein stiller Moment ist das. Ein Anhalten, in dem sich der Körper der Schwerkraft fügt. Ganz leicht. Ina breitete die Arme aus: `So?´ `Ja, so´. Und im Vertrauen, dachte Liz, dass man wieder aufwachen wird. ..."

 

Es bleibt offen, ob Liz sich aus dem "Klammergriff dieser Kindheitsgeschichte" wird befreien können.

 

Simone Kucher hat in ihrem Debütroman die Geschichte ihrer Großmutter fiktionalisiert. Sie erzählt damit von einem Kapitel der deutschen Geschichte, über das es bislang wenig Literatur gibt, obwohl ca. 3 Millionen Menschen direkt von der Vertreibung betroffen waren. An Liz fächert sie auf, wie stark die nächste Generation unter dem Etikett "Flüchtling" litt, wie sehr dieses sogar intime Beziehungen vergiftete.

Mit ihren präzise gezeichneten Figuren macht sie nicht zuletzt klar, wie wichtig es wäre, miteinander zu sprechen und nicht übereinander.

 

 

 

 

 

 

 

 

Simone Kucher: Die lichten Sommer

Kjona Verlag, 2024, 240 Seiten