Yanick Lahens - Mondbad

Dieser mit Herzblut geschriebene Roman erzählt fast einhundert Jahre haitianische Geschichte. Schauplatz ist eine ländliche Gegend, in der nur eines sicher zu sein scheint: die Reichen bleiben reich, die Armen bleiben arm.
Fünf Dörfer werden kontrolliert von der Familie Mésidor. Für sie arbeiten Bauern, denen das Land für ein Almosen abgekauft wurde, und die, wie im Fall Bonal Lafleurs, dafür auch noch ihr Leben ließen.
Dies ereignete sich 1920 und legte den Grundstein für das immense Vermögen der Mésidors. Seit dieser Zeit sind die beiden Großfamilien Feinde, Gegner, Ziel von Hass und Missgunst.
Tertulien Mésidor ist Mitte fünfzig, als er sich in die knapp sechzehnjährige Olmène Lafleur verliebt. Sie ist die Enkelin jenes betrogenen Mannes, Tochter Orvils, der von seinem ermordeten Vater die Position des geistigen Oberhauptes seines Dorfes übernommen hat.
Sie ist also nicht irgendeine schöne junge Frau.
Sie löst unglaubliche Begierde in Tertulien aus. Und auch sie spürt, wie sie unter seinen Blicken zur Frau erwacht. Tertulien und Orvil werden sich handelseinig, Olmène wird Tertuliens offizielle Geliebte.
Diesen Platz nimmt sie gerne ein, erhält sie doch ein eigenes Haus, ein wenig Land und Tertuliens volle Aufmerksamkeit.
Sie wird zu einer "Frau, ... die Schuhe trug", zum ersten Mal in ihrem Leben.
Die Verbindung der beiden zeigt das komplizierte Verhältnis und die wechselseitige Abhängigkeit:
"Ein Wechselspiel, das uns alle mit den Mésidors verband und sie, wider Willen, an uns kettete. Ein Wechselspiel, das wir, Sieger wie Gefangene, seit langer Zeit meisterlich beherrschten. Seit sehr langer Zeit."
Das Liebesverhältins endet trotz des gemeinsamen Kindes Dieudonné ganz plötzlich, als Olméne beobachtet, wie Tertulien zusammen mit anderen einen Bauern tötet. Er ist nun bei "den Blauen", Parteigänger des "Mannes mit dem schwarzen Hut und der dicken Brille", wie er immer genannt wird. Bei diesem handelt es sich um Francoise Duvalier, der 1957 das Präsidentenamt übernahm und bis zu seinem Tod 1971 regierte. Er unterdrückte jegliche Opposition mit Hilfe seiner Miliz, den "Männern in Blau".
Im Verlauf des Romans tritt die Politik bzw. die Macht, mit der diese das Leben der Menschen bestimmt, immer mehr den Blick.
Auch Olmènes Bruder schließt sich der Miliz an und verbreitet "Angst und Schrecken in allen fünf Dörfern ringsum. Unter den Marktfrauen. Unter den Bauern. Den Vertretern von Recht und Ordnung. Alle hatten Angst. Wo immer Fénelon auftauchte, wurde jemand ärmer, verlor etwas oder fühlte sich plötzlich kleiner. Und vor denen, die früher verächtlich auf ihn herabgeschaut hatten ... verzehnfachte sich sein Vergnügen. Er berauschte sich daran, dass er nur auf der Welt war, um ihnen lächelnd zu drohen. Sie zu quälen und sich daran zu ergötzen."
Fénelon wird, wie viele andere Milizionäre, ein grausames Ende finden.
Außer der Miliz des Präsidenten betritt auch die "Partei der Mittellosen" die Szene. Einer ihrer Aktivisten wird als "Prophet" verehrt. Er reißt die Menge mit - bis klar wird, dass er "dem Mann mit dem schwarzen Hut und der dicken Brille verblüffend ähnlich war."
Ein weiterer Bruder Olmènes verlässt Haiti. Er kommt nach fünfzehn Jahren, in denen man nichts von ihm hörte, aus den USA zurück. Offiziell erzählt er vom amerikanischen Traum, nur einigen wenigen Männern erzählt er auch die andere Seite, den Albtraum des Flüchtlings.
Mit dem Schicksal Olmènes, ihrer beiden Brüder, ihres Sohnes und seiner Familie, erzählt Yanick Lahens, geboren 1953 in Port-au-Prince, vom Leben und Überleben der kleinen Leute. Von ihrem Glauben, der die Götter der alten Religion ganz selbstverständlich neben den christlichen Gott stellt. Sie erzählt von den Verstrickungen und Fallen, in die sie geraten und sie erzählt von den Reichen, nicht nur den Mésidors, es gibt noch andere Familien, die nach oben gespült wurden.
Grundton ist jedoch der, dass sich nie etwas ändern wird. Dafür sorgt neben der Politik auch die Natur, denn immer wieder vernichten Orkane alles.
Durch den ganzen Roman ziehen sich Einschübe, kleine, kursiv gedruckte Kapitel. Hier erzählt eine weibliche Stimme von einem dreitägigen Orkan, der sie irgendwo an den Strand gespült hat. Sie ist "gebrochen" und wünscht sich, im Rückblick auf ihr Leben, dieses zu verstehen:
"Meinen gesamten Lebenslauf zurückverfolgen, weil ich ein für alle Mal verstehen will ... Meine Ahninnen und Ahnen wieder in die Welt setzen, der Reihe nach. Bis hin zum franginen-Urvater, bis zu Bonal Lafleur, bis zu Tertulien Mésidor und seinem Vater Anastase. Bis hin zu Ermancia, zu Orvil und Olmène, mit ihrem Wasser- und Feuerblick. Olmène, deren Gesicht ich nicht kenne. ... die mir seit jeher fehlt und die ich bis heute vermisse."
Erst sehr spät wird klar, wem diese Stimme gehört und in welcher Situation sie erzählt. Sie ist ein Bindeglied über die Zeit hinweg, betont die Verbundenheit mit den Vorfahren, reflektiert die Geschehnisse von Jahrzehnten in ihrem kurzen Leben. Und betont die Lebendigkeit der Religion, in der die Menschen Haitis immer schon verwurzelt sind.
Jede einzelne dieses an Personen reichen Romans ist einprägsam gezeichnet. Die Autorin zeigt sie in ihrem Handeln, ihrer Art, zu sprechen. Sie erzählt die Geschichte aus der Sicht eines "wir", eines Kollektivs der Armen.
Dieses "wir" berichtet, was es hört, sieht, wahrnimmt, mit Kommentaren hält es sich zurück. Diese Perspektive, zusammen mit den häufigen Gebeten und Gesängen, gibt dem Roman eine faszinierende Tiefe, ermöglicht einen Blick in eine fremde Welt.
Yanick Lahens: Mondbad
Aus dem Französischen von Jutta Himmelreich
Litradukt Verlag, 2025, 215 Seiten
(Französische Originalausgabe 2014)