Laura Leupi - Das Alphabet der sexualisierten Gewalt

"Das Alphabet ist ein machtvolles Instrument. Das Alphabet als Sammlung der kleinsten Teilchen unserer Sprache, aus denen Wörter und Sätze gebildet werden, aus denen sich Diskurse und Dispositive formen. ...

Das Alphabet ist eine Recherche ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Jede Person trägt ihr eigenes Alphabet der sexualisierten Gewalt. ... Es ist eine Einladung über das eigene Alphabet                                                       nachzudenken."

 

Dieses Buch entstand im wesentlichen während eines Arbeitsstipendiums mit dem Thema HOME im Herbst 2022.

Zu diesem Zeitpunkt lag ein einschneidendes Erlebnis hinter Laura Leupi, geboren 1996 in Zürich, HOME war für sie nicht mehr ohne Gewalt zu denken.

 

Das überaus vielschichtige Buch verzeichnet mehr als ein Alphabet. Es gibt eines, das von A-Z Begriffe auflistet. Manchmal stehen sie für sich, wie "A steht für Alltag", manchmal sind sie in einen Rahmen gebettet:

"A steht für Angst, die wir nicht haben sollten, uns aber anerzogen wird: Angst vor dem öffentlichen Raum, Angst vor Verletzungen, Angst vor Sex, Angst vor der Nacht, Angst vor dem Fremden, Angst vor der Angst. Die Angst verweist uns zurück an den Herd und den MANN ans Gewehr."

 

Oder: "Z steht für Zuhause, unser eigenes oder ein anderes. Dort, wo die meisten sexuellen Übergriffe geschehen. Zuhause kann auch der Ort sein, wo wir uns begegnen und gemeinsam kämpfen. Ein Ort des Zuhörens. Ein Ort der Zuflucht und des Zorns. Ein Ort der Zukunft."

 

Dieses Alphabet wird ergänzt durch ganz persönliche Begriffe der Autorin: in "Tanzboden" beschreibt sie, wie ihr Körper im Bett tanzt, keineswegs vor Freude, sondern in Erinnerung an das, was ihr in diesem Bett, in ihrer eigenen Wohnung angetan wurde. Mit ihrem Buch macht sie ihre Leser:innen zu "Zeug:innen", welche Auswirkungen das Geschehen hat.

 

Dies erfolgt in einem sehr weiten Kontext, der aus  Recherchen in Büchern, im Internet, durch Gespräche, Statistiken, durch präzise Analysen gesellschaftlicher Zustände und ein immer tieferes Hineingraben in das Thema entsteht.

 

So entwickelt sich ein Mix aus intimen Reflexionen, Assoziationen zum Erlebten in poetischen Passagen und

den dezidiert politischen Aussagen, die zeigen, dass es hier nicht um Probleme einzelner Menschen geht.

 

Im Kapitel "Parkett", das zunächst von wegrennenden Dingen erzählt, geht Laura Leupi auf das Schweigenbrechen ein. Dieses "ist der Fetisch des öffentlichen Diskurses über sexualisierte Gewalt. Das Schweigenbrechen wird eingefordert, angeordnet, ritualisiert". Es hat dem "rape script" zu folgen, dem Bild, "das sich unsere Gesellschaften in jahrhundertelanger Traditionsarbeit angefertigt" hat. Entspricht es diesem nicht, wird dem Opfer nicht geglaubt.

 

Leupi zieht Linien bis zur Figur der sich nicht beugenden Lilith in der Bibel, über ihren Schmerz und ihre Wut in ihre Bilder malende Künstlerinnen wie Artemisia Gentilechi oder Brünhilde im Nibelungenlied - es ist eine sehr sehr alte Tradition der patriarchalen und kapitalistischen Verachtung alles nicht cis-Männlichen.

Sie spiegelt sich in der heutigen Gesetzgebung, nicht nur der der Schweiz. Sie zeigt sich in der strukturellen Gewalt, den zunehmenden Femiziden, zeigt sich darin, dass das Zuhause der unsicherste Ort der Welt für Frauen ist. Zeigt sich in der viel zu geringen Anzahl an Frauenhäusern und der noch deutlich geringeren an Männerhäusern. Auch die bräuchte es, "auch männliche Körper sind verletzlich. ... die Hetero-Gewaltwelt übt auch auf cis Männer Zwänge aus."

 

"Q steht für queer, weil nur Queerness uns retten kann."

 

Aus den starren binären Geschlechtern und Geschlechter-rollen ausbrechen, die Opposition subjektives Erleben versus kollektives Sprechen/Erinnern überwinden, wie Laura Leupi es in ihrem Text macht, von der Schiene der linearen, normativen Zeit springen, Literatur als Möglichkeit sehen/nutzen, die Alltagssprache zu verändern - die Autorin führt viele Ansätze zusammen, wie Veränderungen herbei-geführt werden können.

 

Die Passage "Schlüsselbund" ist für mich ganz zentral:

"Ich versuche, dem Stuhl und dem Bett zu erzählen, was in diesem Zimmer passiert ist, aber sie hören mir nicht zu. Mein Mund ist klebrig, und weil ich schon wieder an die Stinkschuhsammlung des Nachbarn denken muss, halte ich mir die Nase zu. Jetzt kann ich gar nicht mehr sprechen, auch das Atmen wird zunehmend schwierig, und vielleicht ist das der Grund, warum ich auch hier nur von tropfenden Eimern und haarigen Stühlen erzählen kann, anstatt zu sagen, was passiert ist in diesem Zimmer, das mein Schlafzimmer war. Und seither beißt mich das Bett, starrt mich der Stuhl an und ich halte mir zu Hause ständig die Nase zu."

 

Alles verändert sich, wenn das eigene Schlafzimmer kein

sicherer Ort mehr ist.

Wie kann man davon sprechen, vergewaltigt worden zu sein, ohne zum Opfer zu werden? 

"Wenn ich das Wort VERGEWALTIGUNG ausspreche, habe ich schon verloren: das arme Mädchen. ... Ich gehöre zu denen, die beschützt werden müssen."

Dagegen, auch dagegen, schreibt sie an mit ihrem Plädoyer, endlich rauszukommen aus der Binarität.

 

Aber Laura Leupi schreibt nicht nur `gegen´, sie schreibt vor allem `für´: für die Empathie. In ihren Augen ist "Empathie die notwendige Voraussetzung und Übung ... um  gesell-schaftliche Veränderungen zu bewirken."

 

Das erste Werk der jungen Autorin schlägt einen Ton an, der bisher nicht zu hören war. In ihrem Buch geschieht all das, wofür sie plädiert.

Es ist ganz und gar außergewöhnlich. Außergewöhnlich geschrieben und für die Leser:innen außergewöhnlich erhellend.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Laura Leupi: Das Alphabet der sexualisierten Gewalt

März Verlag, 2024, 144 Seiten