Laura Lichtblau - Sund

"Es ist das Umkreisen von Lücken, die nach dem Krieg geschaffen wurden. Ich kann mich ihnen aus allen Richtungen nähern, sie kleiner und kleiner werden lassen. Am Ende entsteht etwas wie ein Bild, dessen Ränder verbürgt sind.

Das Zentrum, die Lykke, bleibt eine Ahnung." Laura Lichtblau lässt nach und nach ein Bild entstehen, das die Geschichte der Insel Lykke, im Sund zwischen Dänemark und Schweden gelegen, mit der Geschichte ihrer Familie verbindet. Beide liegen zunächst im Nebel, mehr noch, werden bewusst von einem Schleier des Schweigens und Verschweigens überzogen. Mit Mühe und nicht ohne Schmerzen nähert sich die Ich-Erzählerin einem Thema, das auf der persönlichen wie politisch-historischen Ebene lieber vergessen werden möchte: der Euthanasie.

 

Die Erzählerin befindet sich zunächst auf dem dänischen Festland. Sie wartet dort auf ihre Geliebte, einer Küsten-geologin, die zur Zeit an der Ostsee arbeitet. Die Erzählerin beschreibt die Landschaft und die darin liegenden Bunker, die Häuser, die Stimmung, den alles zerfetzenden Wind.

Und auch die Einwohnerinnen und Frauen, die von der Insel Lykke mit der Fähre herüberkommen, nach manchmal monatelangen Aufenthalten. Was diese Frauen dort machen, bleibt im Dunkeln, und es ist zu spüren, dass man sie nicht mag, hier auf dem Festland.

 

Die Erzählerin ist hier, um an einer Recherche über ihren Urgroßvater zu arbeiten. Er war Professor für Orthopädie und Mitglied des "wissenschaftlichen Beirats" der National-sozialisten, der sich mit der Rassenlehre und dem Erbgesetz befasste. 

 

Doch nachdem ihre Geliebte sich nicht mehr meldet, lässt sie "das Buch meines Urgroßvaters, die unterstrichenen Sätze, die Schwarz-Weiß-Aufnahmen von Erwachsenen und Kindern, Röntgenaufnahmen von Hüften, und Stamm-bäume, Stammbäume, Stammbäume" ruhen und fährt auf die Insel Lykke.

 

Auf der Fähre lernt sie eine Frau kennen, sie nennt sie "die Neue". Die beiden sind sich zwar nicht sympathisch, aber sie tun sich zusammen und begeben sich gemeinsam zum "Vandrehjem", dem ehemaligen Wanderheim, in dem nun eine Art Kommune lebt, die sich ganz der Natur verschrieben hat und esoterische Züge aufweist. So gibt es beispielsweise einen "Geburtspool", aber keine Kinder oder eine "Klang-liege", zur Harmonisierung der Weiblichkeit.

 

Die ganze Situation hat etwas Unwirkliches, Schwebendes, Geheimnisumwittertes. Wieder, auch hier, tun sich Lücken auf:

"Es gibt Lücken in ihren Biografien (jenen Wegbereiterinnen des Umbaus des Wanderheims zum biologischen Hof), und es gibt Lücken in den Stammbäumen. Immer um dieselben Jahre herum, das ist seltsam. Die Insel erscheint uns wie ein Märchen: Seefahrt und Wunder und Verrat und Gesang und viele, viele Anekdoten."

 

In kurzen Abschnitten, durchzogen von Leerzeilen, Lücken, beschreibt die Erzählerin ihr Leben auf der Insel, ihre Irritation, die auch mit der Landschaft zusammenhängt, bzw den vielen Bunkern. Tausende gibt es an der dänischen Küste, viele auf der Insel, auf Touristen üben sie eine sehr große Faszination aus.

 

Laura Lichtblau setzt die Umwelt und die innere Welt der Erzählerin in eine stete Verbindung. So gelingt es ihr, in vielen Miniaturaufnahmen ein dichtes Geflecht entstehen zu lassen, in dem sich die Geschichte des Ortes mit der Recher-che der Erzählerin zum Urgroßvater verbindet.

 

In einem Teil des Buches, das in einer völlig anderen, dokumentarischen Sprache verfasst ist, berichtet sie von der außerordentlich schwierigen Suche nach Beweisen. Schwierig, weil enorm viel vertuscht wurde. Sie berichtet von ihren Funden in verschiedenen Archiven, von der Rolle ihres Urgroßvaters und diverser Weggefährten. 

Der Roman ist mit einer Trigger-Warnung versehen, zurecht, denn hier werden klar und ungeschönt Fakten aufgelistet, die die Praktiken der Euthanasie benennen.

 

So schlägt sich der Bogen vom Wanderheim/Hof, der Land-schaft mit ihren Bunkern, dem über der Insel liegenden Schleier des Schweigens und Vertuschens, den biografischen Lücken, einem aus dem Nichts auftauchenden "Balg", den Erzählungen über Fluchtversuche von der Insel und den vom Urgroßvater verfassten Büchern bis zur Erzählerin, die keine Ruhe vor den Geistern der Vergangenheit findet. Sie muss die Wahrheit über ihren Urgroßvater ans Licht bringen. 

 

"Wieso brauche ich diesen Beweis, den ich nirgendwo finde?

 

Vielleicht, weil ich hoffe, dass die Geister dann aufhören zu singen.

 

Und weil ich weiß: Lebensläufe bauen aufeinander auf. ..."

 

Viele Lücken konnte die Erzählerin schließen auf der Insel Lykke, anderes bleibt eine "Ahnung".

Hochinteressant sind nicht zuletzt die Verbindungslinien in die Gegenwart, die personelle Kontinuität in manchen Institutionen beispielsweise, oder auch, dass Jahrzehnte nach dem Krieg ein Platz in Bad Tölz "nach meinem Urgroßvater benannt" wurde. Jenem Mann, der "für die Zwangssterilisation von Menschen mit bestimmten körper-lichen Merkmalen" plädierte und in einem seiner Bücher schreibt:

"Man muß die feste Zuversicht haben, dass der erbgesunde Teil des deutschen Volkes fähig ist, den Geburtenausfall, der durch die Sterilisierung von Trägern einer Hüftverrenkung entsteht, wieder auszugleichen."

 

Laura Lichtblau, geboren 1985 in München, hat einen Teil ihrer eigenen Familiengeschichte in ihren Roman gewebt.

Er ist auch der Versuch, die Geister der Vergangenheit, die immer noch herumschwirren und immer noch ihren Schatten auf die Gegenwart werfen, zu bannen.

Er ist aber vor allem ein poetischer, klug komponierter Roman, der einen Sog entfaltet und den Leser:innen viel Raum gibt. Das mag paradox klingen, doch in "Sund" gelingt es.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Laura Lichtblau: Sund

C.H. Beck Verlag, 2024, 130 Seiten