Hugo Lindenberg - Eines Tages wird es leer sein

"Sieht aus wie eine Plastiktüte ... Bringen wir sie zurück ins Wasser?"

Diese beiden Sätze sind der Beginn einer Sommerfreundschaft zwischen zwei zehnjährigen Jungen. Sie begegnen sich an einem Strand in der Normandie, der schweigsame und unsichere namenlose Erzähler und Baptiste, der für den Erzähler all das verkörpert, was er gerne hätte und wäre.

 

Die vermeintliche Plastiktüte ist eine Qualle, der Erzähler durchbohrt sie mit einem Stock, er will wissen, wie es in ihrem Inneren aussieht. Und er würde auch gerne wissen, "wie es in seinem (Baptistes) Inneren aussieht. In ihm. Welche Zauberflüssigkeit durch seine Adern fließt und seiner ganzen Erscheinung diesen bronzenen Glanz verleiht."

 

Der Erzähler hat seit seiner Ankunft im Sommerhaus mit niemandem außer seiner Großmutter gesprochen.

Er lebt bei ihr, er scheint ein Waisenkind zu sein. Bei der Großmutter lebt auch die "verrückte Tante" des Jungen, eine dicke, in seinen Augen monströse und eklige Frau, mit der er so wenig wie möglich zu tun haben will.

 

Für den einsamen Jungen, dessen Leben aus einer immer gleichen Abfolge von Ritualen besteht und das sehr sehr langweilig ist, ist Baptiste mehr als ein Geschenk. Er ist ein Wunder. "Er war frei." Er ist mit sich selbst im Reinen, geht seinen täglichen Vergnügungen nach, lebt mit der Selbstver-ständlichkeit eines Kindes, das nicht ständig an sich zweifelt, das geborgen in einer "richtigen Familie" aufwächst.

Von einer solchen kann der Erzähler nur träumen.

 

Gerne beobachtet er die Familien am Strand, wird so zum Zaungast im Leben anderer. 

Er liebt seine Großmutter, ihr Schtetl-Dialekt und die "gehackte Leber" sind ihm jedoch sehr peinlich, sobald sie außerhalb des Hauses in Erscheinung treten.

Ihn plagt der Gedanke, dass die noch junge und zarte Freundschaft mit Baptiste ein jähes Ende nehmen könnte, wenn dieser erfährt, dass er vielleicht vergessen hat, die Toilettenspülung zu betätigen, dass er Jude ist, dass seine Tante verrückt ist. "Würde er mit jemandem befreundet sein, der nur eine Ferienwohnung hat? Jemand, der kein Haus und keine Eltern hat?" Ihm fehlt alles, was eine unbeschwerte Kindheit ausmacht.

 

Er wird von vielen vielen Sorgen geplagt, in seinem Herzen trägt er die Traurigkeit eines Menschen, dessen Familie Jahrzehnte zuvor während der Nazizeit umgekommen ist.

Der Roman spielt in den 1980ern, die Großmutter dürfte Mitte sechzig sein. Sie wurde in Lodz geboren, der Junge kennt ein paar Fetzen der Geschichte seiner Familie, aber er weiß so vieles nicht.

 

Nachdem er einige Einladungen von Baptistes Mutter, die ihn sehr fasziniert, erhalten, mit der Familie gegessen hat, bei Baptiste im Zimmer übernachten durfte, für eine kurze Zeit das Leben von einer anderen Seite erleben durfte, wird ihm klar, wie wenig er mit seiner Großmutter spricht.

 

"Während sie mich wusch, während sie das Gemüse schälte und mir die Suppe servierte, wünschte ich mir zum ersten Mal, dass sie mit mir spricht. Nicht über den Krieg oder Yves Saint Laurant, sondern über meine Mutter. Es ist schlimm, jemandem dabei zuzusehen, wie er lügt. Es ist schlimm, einer ganzen Familie dabei zuzusehen, wie sie ein Kind belügt. Selbst die Verrückte, die geradezu überquillt, hält sich an die Lüge. Mein Erbe ist Schweigen." 

 

Das Schweigen, die Leere, füllt er mit Beobachten und Denken. Diese Beobachtungen und Gedanken beschreibt Hugo Lindenberg, geb. 1978, in seinem Debütroman so präzise wie empathisch. Sehr nah bringt er einem den Jungen, der so vieles versteht und so vieles nicht.

Aber auch das Meer, das Licht, den Sand, selbst die Quallen lässt er lebendig werden, immer in Bezug zu dem Jungen.

 

"Die Meeresfauna zeigt sich mir im Vorbeischwimmen, und ich liebe ihre Schüchternheit. Sie passt zu mir. Ich kann alle verstehen, die sich beim leisesten Geräusch im Sand vergraben, denen die eisige Einsamkeit der Felsen lieber ist als das Feuer einer Begegnung..."

 

Das Porträt des Jungen ist auch ein Porträt derer, die als Nachkommen von `Überlebenden´ aufwachsen. So sagt er über seine Tante und seinen Vater, als diese Kinder waren und unter die Fittiche ihrer Eltern schlüpfen wollten:

 

"Bei uns gibt es keine Fittiche und kein Kind. Es gibt nur Überlebende, die zwischen Geistern umherirren."

 

Es ist ein intensiver Roman, ein trauriger, aber nicht nur. Denn der junge Erzähler hat die Kraft, sich aus seiner Einsamkeit zu befreien. Er hat auch den Mut, sein Herz zu öffnen, er ist empfänglich für Sinnlichkeit und er ist neugierig. 

 

 

 

 

 

 

 

 

Hugo Lindenberg: Eines Tages wird es leer sein

Aus dem Französischen von Lena Müller

Edition Nautilus, 2023, 168 Seiten

(Originalausgabe 2020)