Claudio Magris - Ein anderes Meer

Der 1939 geborene Schriftsteller, Germanist,  Kaffeehausliterat und Friedensstifter wurde 2009 mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet. Dieser Preis ist einer von vielen für einen Autor, der ausgehend von der historisch-politischen Besonderheit der Stadt Triest niemals müde wurde, die multikulturelle Vergangenheit und Einheit Mitteleuropas zu betonen. Und für die Erhaltung dieses Raumes einzutreten.

 

Triest ist Mittel- oder Ausgangspunkt vieler seiner Bücher.

Bekannt wurde Magris mit seinem 1986 erschienenen Werk "Donau. Biographie eines Flusses", darüber hinaus veröffentlichte er viele Essays, Romane, Erzählungen.

 

Die Erzählung "Ein anderes Meer" nimmt ihren Anfang ebenfalls in Triest. 

Enrico Mreule, geb. 1886, reist im November 1909 von hier aus ab nach Argentinien. Er will dem Militärdienst entgehen, vielleicht sucht er auch einfach nach etwas Neuem.

Er hat sein Studium der Altphilologie abgeschlossen und kaum jemandem erzählt, dass er auswandern wird. Nicht einmal seiner Mutter. Sein Leben in Görz, einer Stadt in der Nähe Triests bestand für ihn hauptsächlich aus dem Zusammensein mit den Freunden Nino und Carlo. Diese drei jungen Männern bildeten einen Freundschaftsbund, der sich mit sich selbst, Literatur und Philosophie beschäftigte.

 

Kopf der Gruppe ist Carlo Michlstädter, ein frühvollendeter Dichter. Er ist gerade dabei, sein Meisterwerk abzuschließen, als Enrico abreist.

Enrico verehrt Carlo wie einen Gott und die Frage, warum er Triest bzw Görz verlässt, bleibt (für mich) unbeantwortet. Magris schreibt: "Diese Reise wird keine Flucht, Abschied ist ein bisschen sterben, sondern sie wird leben bedeuten, sein, ausharren. Nur die Ängste, Absichten, Ziele werden nachlassen und sich verlieren."

 

Enrico wird in Argentinien zum Viehhalter bzw zum Cowboy. Er treibt die Herden über hunderte Kilometer bis nach Patagonien hinunter. Er sucht die Einsamkeit, lebt schließlich in einer total verlassenen Gegend, in der er zwei Jahre lang keinen Menschen zu Gesicht bekommt.

Wovor flieht er, auch wenn die Reise keine Flucht ist?

Sein Bezugspunkt ist und bleibt Carlo.

Enrico hat viel Zeit zum nachdenken, er liest die alten Texte, erinnert sich an die gemeinsame Zeit. "Wehe dem, der sich ausbreitet in der Welt. An seinem österreichischen Gymnasium hat Enrico gelernt, dass man sich einzwängen, einschränken muss. Er hat es ein für allemal gelernt, und nicht nur von seinem Lehrer Schubert-Soldern..."

 

"Kleiner werden, sich beschränken, die Zivilisation ist wie der Gartenbau die Kunst des Beschneidens. Enrico hat wirklich nichts übrig für die Zivilisaion, er ist auch deswegen nicht zum Militär gegangen, weil sie einem da den Kopf rasieren, es gefällt ihm, herumzulaufen, wie es ihm passt. Irgend etwas stimmt nicht, wo muss man hingegen, um wie Schubert-Soldern zu sein, nach Görz oder nach Patagonien, wo passieren die Dinge nicht?"

 

"Ja, das Herz ist in Görz geblieben, wo Carlo ist, doch es lebt sich ausgezeichnet ohne Herz, wie mit einem Holzbein oder einer Holzhand."

In Patagonien erhält er die Nachricht, dass Carlo sich mit der Pistole erschossen hat, die Enrico ihm vor Jahren gegeben hat. Carlo hatte sein Werk fertiggestellt, zehn Tage später setzte er seinem Leben ein Ende.

 

Enrico denkt über das erloschene Licht nach, über das, was Carlo geschrieben und gesagt hatte. Er kreist um die Themen Freiheit, Beschränkung, Bedürfnisse-Wunschlosigkeit.

Zweimal muss er nach Buenos Aires, um sich wegen Skrobut behandeln zu lassen. Nach dem zweiten Mal spürt er, "dass er es nicht mehr schafft, dass diese Geschichte zu Ende ist....

Er wird nach Görz zurückkehren."

 

Im Jahr 1922 kommt er dort an. Er nimmt eine Stelle als Lehrer an, obwohl er diese Tätigkeit sehr ungerne ausübt.

Er mag die Schüler nicht. Später gibt er diesen Beruf wieder auf, er heiratet, seine Frau verlässt ihn bald wieder, er heiratet erneut und lebt auf einem Hof an der istrischen Küste. Er versucht sich so weit wie möglich von allem fernzuhalten, was mit der Realität zu tun hat. Mussolini, die Übergriffe gegen Juden (Carlos Schwester und Mutter werden verhaftet und in Auschwitz ums Leben kommen), die Partisanen, die im Dorf auftauchen, schließlich die Auseinandersetzungen mit den Kommunisten und die Entstehung Jugoslawiens: Enrico führt ein sehr eingeschränktes Leben. Er macht Spaziergänge, geht fischen, er liest, er tyrannisiert seine Frau. Er ist ein durchweg unsympathischer Mensch geworden. Das liegt vielleicht daran, dass ihm jegliche Sympathie für andere fehlt.

Er hat sich beschränkt, beschnitten, er hat sich von den Menschen befreit.

 

Carlo ist für ihn der Buddha des Westens, "Carlo war wirklich der Größte; seine Sonne ... ist sogar stärker als jene des Parmenides und des Platon, seine Strahlen reichen weiter."

 

Magris führt aufs Ende der Erzählung hin die Stränge Carlo und das Zeitgeschehen immer enger zueinander, schließlich ineinander. In Enricos Kopf verwischen sich die Zeiten vollends, als ihn die dreiundzwanzigjährigen Augen Carlos aus dem Gesicht der einundsiebzigjährigen Paula, Carlos Schwester, ansehen, die ihn an seinem siebzigsten Geburtstag besucht. Drei Jahre später stirbt Enrico.

 

Magris hat die Besonderheiten des Grenzgebietes östlich von Triest in seine Erzählung eingearbeitet. Hier fiel nach dem Krieg der eiserne Vorhang, den Enrico schon in jungen Jahren in seinem Inneren fallen ließ.

Durch seine extreme Selbstbeschränkung und Fixierung auf Carlo und dessen zur Religion erklärten Worten, konnte er nicht einmal in einem so weiten Land wie Argentinien frei atmen und sich entfalten. 

Hätte er die Möglichkeiten der Vielfalt erkannt, wäre sein Leben wahrscheinlich anders verlaufen...

 

Die Konzentration Enricos auf seinen Fixstern vollzieht Magris mit einem Stil nach, der auf Ausschweifungen verzichtet. Kaum eine Landschaftsbeschreibung, wenige Dialoge, wenige Personen. Diese Einheit von Form und Inhalt gibt dem Buch Tiefgang. Dass er diese Einheit nicht ganz konsequent durchhält macht es interessanter und lesenswert.

 

 

 

 

 

 

 

 

Claudio Magris: Ein anderes Meer

Übersetzt von Karin Krieger

Hanser Verlag 1992, 120 Seiten

dtv-Taschenbuch, 2009, 120 Seiten

(Originalausgabe 1991)