Luise Maier - Ehern

"Ich bin ich. Ich bin meine Mutter, ich bin Magdalena, ich bin Eva. Ich male wie meine Mutter, ich träume von Anton, ich bekomme jedes Jahr zu Weihnachten eine Bronchitis, als wäre mein Gehirn, mein Körper mit den Gehirnen, den Körpern all der Mütter verknüpft, als wäre ich eine Matrjoschka, die in sich alle Mütter meiner Linie vereint, und wenn ich einmal eine Tochter haben werde, wird sie mich in sich tragen, nachdem ich sie in mir getragen habe."

 

Diese Gedanken der Ich-Erzählerin Ida stehen am Ende des ersten von drei Teilen des beeindruckenden, eindrücklichen Romans der 1991 geborenen Autorin.

In diesem Generationenroman geht Ida bis zu ihren Urgroß-eltern zurück. Die Urgroßmutter Eva, Jahrgang 1893, starb am Heiligen Abend 1931 an einer Lungenentzündung. Deshalb der Hinweis auf Idas jährliche Bronchitis an Weihnachten.

 

Es war ein weiter Weg für Ida, zu der oben zitierten Aussage zu kommen, die Matrjoschka in sich zu erkennen und anzuerkennen.

Lange Zeit wehrte sie sich gegen feste Bindungen. Mit Mitte zwanzig lernt sie Antoine und seine beiden Töchter kennen. Hier erfährt sie eine Verbundenheit, eine Art, miteinander

umzugehen, die sie dazu veranlasst, sich mit ihrer eigenen Familiengeschichte auseinanderzusetzen. Und dabei vielleicht die Frage zu klären, woher ihre Bindungsangst kommt.

 

Im Verlauf des Romans entwirrt Ida mit Hilfe von vielen Gesprächen, Recherchen, intensiver Lektüre und einem plötzlich aufgetauchten Bündel an Briefen die Biografien und  Beziehungen der mütterlichen Linie ihrer Vorfahren.

Sie lüftet gut gehütete Geheimnisse - auch in ihrer Familie herrscht über die Zeit des Krieges "ein einziges großes Schweigen".

 

Ein besonderer Augenmerk liegt auf ihrer Großmutter Magdalena, 1921-2008. Sie hat ihren Schwager Anton geheiratet, nachdem ihre ältere Schwester Anna gestorben war. Damit wurde sie von der Tante zur Stiefmutter dreier Kinder. Fünf weitere brachte sie zwischen 1953 und 1962 zur Welt, darunter Elisabeth, Idas Mutter.

 

Mit Magdalena beleuchtet Luise Maier das Erziehungs-konzept der Nazi-Zeit und wie weit über diese Zeit hinaus die Ideen der Ärztin Johanna Haarer wirkten, die den führenden Ratgeber zum Umgang mit Kindern geschrieben hatte. Das ist erschütternd. Dieses Buch aus dem Jahr 1934 wurde bis in die 80er Jahre hinein verlegt. Es verlangt von den Müttern, ihre Kinder möglichst wenig zu beachten, möglichst nicht zu berühren (über die unvermeidliche Berührung bei der Hygiene hinaus), kein Augenmerk auf die Bedürfnisse des Kindes zu legen, seinen Willen von Anfang an zu brechen, einen Menschen zu formen, der nicht denkt, sondern gehorcht.

 

Die 1990 geborene Ida fragt sich, wie viel von diesem Erziehungskonzept in ihr selbst noch immer wirkt.

Wie viel von den Kriegserlebnissen der Mütter, Väter und Brüder, wie viele Ängste aus vorangegangenen Generationen sind im Körper, in den Genen, im Gehirn eines Menschen abgelagert?

 

In vielen Varianten, Bruchstücken, Episoden spielt Luise Maier das transgenerationale Trauma durch, sie spannt Fäden zwischen einzelnen Punkten, die auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun haben.

So entsteht ein dichtes Geflecht an Bezügen, pointiert ausgedrückt in Aussagen wie:

 

"Ich weiß nicht, sagt meine Mutter, was mein Vater erlebt haben muss, dass ich so etwas träume." 

 

"Ja, ich war einer ständigen Angst ausgesetzt im Aufwachsen unter ihr als ihr Kind, nie war klar, ob sie aus dem Krankenhaus zurückkommen würde oder nicht, aber dieses Bangen war auch mehr als nur die Angst um sie, es war die Angst von Generationen."

 

"Ich war gar nicht dabei, als es passierte, meine Mutter erzählte es mir, aber ich habe das Bild im Kopf ... als hätte ich es selbst miterlebt..."

 

Erinnerungen, Erzählungen, Träume, Ausgedachtes, Weiter-gegebenes, gespiegelt in der Geschichte des 20. Jahrhunderts und dessen Auswirkungen bis in die Gegenwart hinein: indem sie die "blinden Flecken" ihrer Familie erkundet, erzählt sie von den blinden Flecken eines ganzen Landes. 

 

Ida sagt, sie "leiste Trauerarbeit". Diese ermöglicht es ihr am Ende des Romans zu sagen:

 

"Einmal fragte ich noch im Staatsarchiv nach der Entnazifizierungsakte von Magdalena, weil es sie war, der fanatisches Gedankengut und Handeln nachgesagt wurde. Es gab keine Akte; aber es gibt die Erinnerungen ihrer Kinder an ihr Verhalten. Diese ewige Ambivalenz auszuhalten: Das ist hart. Ich glaube, ich bin mein bisheriges Leben lang vor dieser Wahrheit geflüchtet, in Partys, Reisen, Sex. Dann kam Antoine, mit Agnes und Leila, und ich wurde angehalten nachzudenken. Was da alles hochkam und immer noch hochkommt. Dafür weiß ich jetzt, was ich in mir trage.

Wer ich bin und woher ich komme. Und: Wohin ich gehen möchte."

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Luise Maier: Ehern

Wallstein Verlag, 2023, 166 Seiten