Dacia Maraini - Tage im August

"`Die Welt ist die Hölle´, flüsterten sie mit drohender Stimme. Doch jetzt war ich draußen und wollte diese Welt kennenlernen, und zwar alles. Ganz eintauchen. Aber bis jetzt schmeckte sie bitter." Die flüsternden Stimmen sind die der Nonnen, in deren Internat Anna, vierzehn, mit ihrem jüngeren Bruder Giovanni in Rom lebt. Nun ist Sommer, der Vater holt sie für ein paar                                                 Wochen ans Meer. 

 

Er treibt die Kinder zur Eile, denn "eure zweite Mama wartet zu Hause auf euch". Von dieser zweiten Mutter wissen die Kinder noch nichts. Nina ist eine sinnliche Frau, die Anna immer wieder an eine Katze erinnert. Sie scheint nicht begeistert zu sein, sich um die Kinder kümmern zu müssen, zumal der Vater nur während der Wochenenden anwesend ist. Die Arbeitstage verbringt er in Rom. Von dieser Stadt träumt Nina hin und wieder, doch es ist das Jahr 1943, an der Küste ist die Familie sicherer. Nicht selten donnern Flug-zeuge über sie hinweg in Richtung Rom, in dem die Menschen hungern.

 

Vater hatte sich als Geschäftsmann ausgegeben, es stellt sich heraus, dass er nur der Angestellte Signore Pompeis ist. Dieser wohnt mit seiner Frau und dem achtzehnjährigen Sohn Armando in der Etage über ihnen. Sehr häufig trifft man sich, um Karten zu spielen, zu rauchen und scherzen, nicht zuletzt, um damit die Ereignisse der Zeit auszublenden. Und die Herren nutzten die Gelegenheit, sich den Frauen zu nähern, Nina wie Anna.

 

Giovanni genießt die Freiheit am Meer in vollen Zügen.

Er schließt sich einer Bande Gleichaltriger an, deren Porträt eine gelungene Zeichnung von Jungs ist, die in rohen Zeiten groß werden, lernen, sich irgendwie durchzuschlagen.

Die noch Kinderspiele spielen, aber keine Kinder mehr sind. 

Sie können sehr brutal miteinander umgehen, man fragt sich, wie sie sich jenen gegenüber verhalten, die sie nicht als Freunde betrachten. 

 

Über diese Bande kommt Anna auch in Kontakt mit Gigio. 

Er "kauft" Jungs und Mädchen, Anna gefällt ihm, weil sie noch eine knabenhafte Figur hat. Für ein Stelldichein mit ihr im Auto gibt er später Giovanni das Geld:

"Er hat mir Geld gegeben, für dich und für mich. Hundert Lire. Willst du die Hälfte?"

 

Auch ein anderer älterer Herr ist aufmerksam geworden auf Anna. Sie lernen sich im Strandbad kennen, er fordert sie auf, ihn in seiner Wohnung zu besuchen. Sie geht hin. Von ihm erhält sie ein paar Münzen, doch das macht ihr nichts, Anna ist nicht auf Geld aus. Sie möchte Erfahrungen sammeln, die Freiheit "jenseits der Internatsmauern" finden. Doch diese Freiheit zeigt sich ihr in Form von zudringlichen Männern jeden Alters, angefangen bei Giovannis Bande.

 

In Anna mischen sich Neugier, so fragt sie z.B. unvermittelt Armando während eines Tanzes: "Wie schläft man eigentlich richtig miteinander?", und eine grundsätzliche Leere, eine Gleichgültigkeit und Fremdheit allem gegenüber.

 

"Während ich über Giovanni nachdachte, fiel mir auf, dass ich mich selbst auch nicht kannte. Ich hatte mich aus den Augen verloren. Irgendwo. Wo genau, spielte keine Rolle."

Nina beklagt sich: "Dein Vater hat euch mir anvertraut. Aber es ist nicht leicht, mit euch zurechtzukommen. ... Euch ist alles egal."

Oder: "Pica legte einen Arm um meine Schultern und lächelte versöhnlich. Er bot mir eine Zigarette an. Beim Rauchen stelle ich mit Erstaunen fest, dass ich den Eindruck hatte, als sei es gar nicht ich, die dieses zusammengeklebte Papier zwischen die Lippen steckte, sondern jemand anderes und ich würde nur zusehen. Ich war erstaunt, dass ich erstaunt war. Mein anderes Ich verschwand wieder. War das wirklich ich gewesen?"

 

Die Leere in Anna konnten die Nonnen nicht mit Glauben füllen. Im Gegenteil. Denkt sie an das Internat, kommen ihr Hunger und Kälte, bohrende Blicke, Hände, die sich nach einem ausstrecken und alles durchsuchen, eklige Reliquien und der ständige Hinweis, alles außer Beten sei Sünde, in den Sinn. 

Vor allem das letzte Kapitel, das von der Rückkehr Annas und Giovannis ins Internat erzählt, geht unbarmherzig mit den frommen Damen ins Gericht. 

Kaum hat Anna den Flur betreten, hat sie "das Gefühl zu ersticken." 

 

Dacia Maraini, geb. 1936 und heute eine der wichtigsten literarischen Stimmen Italiens, zeichnet in ihrem Debüt-roman das Bild einer Heranwachsenden, die nach Freiheit strebt, ohne eine Ahnung davon zu haben, wie diese aussehen könnte. Sie lebt in der geschlossenen Welt der Nonnen, für zwei Monate wird sie in die Welt der Männer entlassen, die nur an ihrem Körper interessiert sind.

Dass aber auch Anna selbst sexuellen Erfahrungen nicht abgeneigt ist, war ein großer Skandal bei Erscheinen des Buches im Jahr 1962. 

Dazu dürfte auch ihr distanzierter Blick beigetragen haben, der noch heute verstörend wirken kann, zugleich jedoch die Besonderheit des Romans ausmacht. 

 

Er spielt in schweren Zeiten, die Politik ist im Hintergrund immer gegenwärtig. Es gibt Faschisten und Gleichgültige, Schönredner und solche, die ganz bewusst nichts mit all dem zu tun haben möchten. Diesbezüglich lebt Anna noch in einem Kokon jugendlicher Unschuld, über Politik macht sie sich keine Gedanken.

 

Ihr auffälligstes Merkmal ist ihre Gleichgültigkeit. Diese lese ich nicht im Sinne eines `alles egal´, sondern, so paradox es klingt, als die Grundlage ihres Welthungers: alles gilt ihr gleich viel. Sie ist interessiert an jeder Erfahrung, die sich ihr bietet. Sie ist eine irritierend moderne Heldin, Nukleus all der großen Frauen, die Dacia Marainis Werk auszeichnen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Dacia Maraini: Tage im August

Aus dem Italienischen neu übersetzt von Ingrid Ickler

Folio Verlag, TransferBibliothek, 2024, 235 Seiten

(Originalausgabe 1962)