Elena Medel - Die Wunder

Dieser sehr klug komponierte Roman erzählt die Geschichte zweier Frauen, Marias und Alicias. Zwischen die Jahre 1969 und 2018 gespannt, erzählt er auch die Geschichte Spaniens, genauer, die eines in der Geschichtsschreibung gerne vergessenen Teils der Menschen: der Frauen. Thematisiert wird der tägliche Kampf ums Überleben, Beziehungen, die Rolle der Frau in der Öffentlichkeit, das Ringen um Eigen-ständigkeit - Freiheit wäre ein zu großes Wort, ein zu vermessener Wunsch, wäre ein Wunder.

 

Der Roman beginnt und endet im Jahr 2018. Maria nimmt

an den Vorbereitungen für den großen Streik am 8.März, dem Internationalen Tag der Frauen, teil. Über eine Million Menschen  demonstrieren alleine in Madrid für ihre Rechte.

 

"Mein ganzes Leben lang, all die siebzig Jahre, die ich bald erreiche, habe ich gelebt, um heute aufzuwachen, mich mit euch zu vereinen, mit euch zu marschieren. Bei der Bürger-initiative hört sie: Jede, die will, soll in den Arbeitsstreik treten, soll in den Konsumstreik treten, soll in den Hausarbeits- und Sorgestreik treten." 

 

Mit diesen Gedanken Marias ist bereits ganz zu Beginn des Romans eine dezidiert politische und feministische Haltung vorgegeben. Auch wenn die persönlichen Schicksale Marias und ihrer Enkelin Alicia, geboren 1985, im selben Jahr wie die Autorin, erzählt werden, geschieht dies konsequent mit dem Blick auf die gesellschaftliche Situation.

 

Dies macht den Roman keineswegs spröde oder sperrig theoretisierend, er ist reich an Emotionen, menschlichen Erfahrungen, tiefen Gedanken, an Erkenntnissen.

An gelebtem Leben.

 

Maria verlässt ihre Heimatstadt Cordoba mit achtzehn Jahren. Schon lange geht sie nicht mehr zur Schule, sie muss arbeiten. Und wird schwanger. Ihre Tochter Carmen lässt sie bei den Eltern zurück, als sie nach Madrid geht, um dort Geld zu verdienen und so viel wie möglich nach Hause zu schicken. 

 

Bei wenigen Besuchen im Jahr ist es nicht möglich, eine Beziehung zu Carmen aufzubauen. Als Carmen heiratet, wird Maria vollends aus deren Leben entfernt. Sie ist noch jünger als ihre Mutter, als sie Alicia zur Welt bringt, immer-hin heiratet sie den Vater des Kindes. Ihr Mann kommt ebenso aus der Unterschicht, schafft aber den Aufstieg - bis es zum totalen Absturz kommt. Dieses Ereignis ist der Wende-punkt im Leben der dreizehnjährigen Alicia. Es bedeutet Rückkehr ins alte Viertel, Armut statt Privatschule. Und es bedeutet ein lebenslanger Albtraum, Nacht für Nacht.

 

Alicia flieht ebenfalls nach Madrid, sie studiert, gibt das Studium auf, fängt an, hier und da zu arbeiten.

Großmutter und Enkelin wohnen nun in der selben Stadt, ohne voneinander zu wissen.

 

Elena Medel beleuchtet in den sieben Kapiteln des Buches jeweils Maria oder Alicia. Ganz klar und deutlich arbeitet sie dabei heraus, in welchen Strukturen die Frauen leben, wie schwierig es ist, eine Stimme zu finden und die eigene Meinung zu sagen. Maria ist sehr mutig, stets auch darum bemüht, sich fortzubilden. Sie liest, ihre Wahlfamilie sind die jungen Frauen in der Bürgerinitiative. Sie kommt mit Pedro zusammen, als sie Mitte zwanzig ist, mit Ende vierzig leben die beiden immer noch in getrennten Wohnungen. Maria will es so. Sie lässt sich auch nicht durch das Argument, man könne Geld sparen, wenn man in einer Wohnung lebte, umstimmen. 

 

Anders Alicia. Sie geht eine Zweckehe ein, ist überhaupt weniger kämpferisch als Maria, scheint ihr Leben eher vermeiden zu wollen, als es zu leben. 

 

"Alicia hat kein Vergnügen an ihrem Leben, doch ihr Leben lenkt sie ab." - Wovon lenkt es sie ab? Von dem Ereignis, das es in ein davor und danach spaltete?

 

Elena Medel beschreibt die beiden Protagonistinnen in jedem Kapitel in einem anderen Alter. Maria mit neunzehn, mit Mitte zwanzig oder Mitte dreißig, Ende vierzig, siebzig. Alicia mit dreizehn, dreiundzwanzig, dreißig etc. Dabei springt sie auf dem Zeitstrahl vor und zurück, so lassen sich die persönliche und die gesellschaftliche Entwicklung darlegen und miteinander verzahnen, denn die Welt war eine andere, als Maria jung war - oder doch nicht so sehr? Es hat sich viel und zugleich erstaunlich wenig verändert.

Eines vor allem blieb gleich: der Kampf ums Geld. 

 

"Im Grunde geht es um Geld: um den Mangel an Geld. Jede einzelne Situation, die Maria an diesen Punkt gebracht hat ... hätte sich mit Geld ganz anders entwickelt. Sie, Soledad und Chico hatten die Schule aufgegeben, weil die Familie Geld brauchte. ... Des Geldes wegen hatte sie frühzeitig ihr Elternhaus verlassen, beim Sohn einer anderen den Geruch ihrer Tochter suchen müssen. ... Was sie nicht erlebt hat, das hat sie des Geldes wegen nicht getan; aus Mangel an Geld. ... Aber auch darum geht es: eine Frau zu sein." - So Maria. Und:

 

"Es geht um Macht."

 

Das letzte Kapitel spielt auf der großen Demonstration.

Es ist aus zwei Perspektiven erzählt: einer relativ jungen Frau und einer alten. Die junge stürzt im Gedränge, die ältere hilft ihr auf. Maria und Alicia erzählen aus ihrer je eigenen Sicht diesen Vorfall, nach dem die eine nach Hause flieht, die andere erst später in ihr Zuhause zurückkehrt, nach der Demo.

 

Elena Medels Romandebüt wurde sofort nach seinem Erscheinen 2020 ein Sensationserfolg. Die Lyrikerin gewann für ihn als erste Frau (!) den Premio Francisco Umbral,

der Roman wurde in 15 Sprachen übersetzt und avancierte zum Klassiker der jungen Generation. Fein ins Deutsche übertragen wurde der kraftvolle Roman von Susanne Lange,

eine mit diversen Preisen ausgezeichnete Übersetzerin und Herausgeberin spanischer Lyrik.

 

Ein großes Leseerlebnis!

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Elena Medel: Die Wunder

Aus dem Spanischen von Susanne Lange

Suhrkamp Verlag, 2022, 250 Seiten

(Originalausgabe 2020)