Lina Meruane - Nervensystem

Um die Fragilität menschlichen Lebens geht es in diesem ungewöhnlichen, sehr körperbasierten Roman. Ver-letzungen physischer und psychischer Art, sowie Krankheiten konstruieren ein Netz, das die Mitglieder einer Familie miteinander verbindet. Als "klinische Familien-Biographie" wurde der Roman bezeichnet, das Wort `Blutsbande´ bekommt hier eine ganz  konkrete Bedeutung. Aber es geht auch um Politik, um die Verfasstheit von Ländern und Gesellschaften. Der Mensch lebt nicht außerhalb der Geschichte.

 

Keine Figur in diesem Roman trägt einen Namen.

Die Protagonistin ist schlicht "sie", eine Frau Ende dreißig, die an ihrer Doktorarbeit in Physik schreibt, ihren Blick auf die Planeten richtet. Und darüber verzweifelt.

Sie kommt nicht vorwärts, setzt sich immer mehr unter Druck, so lange, bis sie schließlich eine Rückenmarkentzün-dung bekommt. Sie hatte sich gewünscht, krank zu werden, um einige Monate von ihrem Brotjob als Lehrerin freigestellt zu werden und schreiben zu können, doch diese Krankheit verhindert weiteres Arbeiten.

Ein Teil des Drucks, vorwärts zu kommen, ist die Tatsache, dass ihr Vater sein gesamtes Geld in ihr Studium gesteckt hat. Das weiß niemand, doch steht sie mächtig in seiner Schuld. Als er krank wird und in ein schäbiges Militärkrankenhaus geht, versteht nur sie, warum er keine bessere Klinik wählt.

 

Auch ihr Partner, "der Knochenexperte", ein Gerichts-mediziner, der in Massengräbern gefundene Knochen analysiert, wird von seiner Arbeit an den Rand seiner Kräfte getrieben. Eine Explosion in einem Graben tut ihr Übriges.

"Es ist kein Staatsgeheimnis mehr, dass es die Leichen jüngst eingetroffener Immigranten sind, und es bleiben nicht die einzigen: Noch mehr tauchen auf beim Ausheben von Fundamenten und in einem Graben am Flussufer, während Knüppel Hakenkreuze Messer Transparente den Tod von Immigranten fordern."

 

Die USA, wo die beiden leben, sind das "Land der Gegenwart". Sie, ebenfalls eine Immigrantin, kommt aus dem "Land der Vergangenheit", einer Diktatur, in dem sie keine Zukunft hat. Weder beruflich, noch privat, zu sehr ist dort noch immer die Gewalt verbreitet.

 

Bis ins Detail ausdifferenziert werden die Krankheiten, unter denen die Figuren leiden.

Neben "ihr" und dem Knochenexperten sind dies die Mutter der Protagonistin, die biologisch ihre Stiefmutter ist, der "Erstgeborene", d.h. ihr älterer Bruder, und schließlich der Vater.

 

In fünf  Kapiteln legt Lina Meruane, geb. 1970 in Chile, ein besonderes Augenmerk auf jeweils eine Person. So z.B. in dem mit "milchstraße" überschriebenen Kapitel auf die Mutter. Schwangerschaft, Abtreibung, Stillen, Brustkrebs, Chemotherapie und Bestrahlungen sind Thema, ebenso die täglichen Anforderungen in Familie und Beruf. 

 

Merkwürdigerweise gleichen sich die Krankheiten der zweiten Ehefrau ihres Vater und ihre eigenen. Sie ist nicht verwandt mit ihr, die leibliche Mutter starb bei der Geburt.

Sie fragt sich: "Wessen Kopie bin ich?"

 

Für den Bruder ist klar, wer und was sie ist: Eine "Mörderin, Muttermörderin". Nie verwindet er den Tod der Mutter, nie kann er sich mit der Stiefmutter oder den Zwillingen, seinen Halbgeschwistern, abfinden oder gar anfreunden.

Er ist und bleibt ein einsamer Läufer, Extremsportler, der dem Leben davonrennt. Und sich ständig irgend etwas bricht.

 

Doch der Roman, der so viel von Krankheiten erzählt, ist  sehr geschickt mit der (Zeit)Geschichte verknüpft.

 

Der Beschreibung eines Sturzes ihres Vaters folgt der Hinweis auf Demonstrationen:

"Inzwischen spielten die Schüler in ihrem vergangenen Land nicht mehr mit Murmeln. Sie gingen auf die Straße, um zu demonstrieren, verwandelten sich in Mengen mit Transpa-renten, Radiorekorder auf den Schultern, bei ihnen die kleinen Geschwister, frei von Fremdbestimmung, tanzend, anklagend, spuckend, unkontrollierbar ..."

 

Die Gewalt der Politik und die der Individuen geht Hand in Hand:

"Er hatte sich dem Identifizieren von Knochen zugewandt, um die Gewalt abzuschütteln. ... Sie würde erst später begreifen, dass er die eigene Gewalt gemeint hatte."

 

Die Krankheiten und Traumata wüten in den Menschen,

aber auch in den Ländern, in denen sie leben. Und in allen anderen Ländern, denn welches hat keine Geschichte der Gewalt?

Wie ein Nervengeflecht durchzieht sie die Jahrhunderte, so, wie ein krankes Nervensystem, das falsche Signale sendet, die Menschen durchzieht.

 

Und so, wie Sterne sterben können, das nur scheinbar ewige Universum ständig in Bewegung und damit in Gefahr ist, so fragil ist das menschliche Leben. Die Astrophysikerin denkt "So viel kann schiefgehen", und konstatiert: "Denn die Ausnahme ist das Leben." 

 

 

Dieser im wahrsten Sinne des Wortes leidenschaftliche Roman wurde von der renommierten Übersetzerin Susanne Lange gekonnt ins Deutsche übertragen. 

Das Cover der kanadischen Künstlerin Amy Friend zeigt wunderbar die elektrische Ladung der Nerven, es könnte auch die Aufnahme eines Sternenhimmels sein, der Roman legt beides nahe.

 

 

 

 

 

 

 

 

Lina Meruane: Nervensystem

Aus dem chilenischen Spanisch von Susanne Lange

Aki-Verlag, 2023, 288 Seiten

(Originalausgabe 2018)