Katharina Mevissen - Mutters Stimmbruch

Mutter, die namenlose Heldin dieses Stückes für eine Person, ist jenseits der siebzig. Sie lebt alleine in einem viel zu großen Haus, das ebenfalls unter den Mühen des Alters leidet. Das Dach ist undicht, die Türen quietschen wie Mutters Knie, beide bräuchten ein Gerüst, das sie stützt. "Mutter ist in die Jahre gekommen. Ihr Körper wird nicht mehr gebraucht,

aber er ist immer noch da. Manchmal weiß sie nicht, wohin damit."

 

Der Roman dreht sich vordergründig in weiten Teilen um den Körper. Er friert, wärmt sich in der Badewanne, die Zähne tun weh, essen macht Schwierigkeiten. 

 

"Mutter weiß: Körper sind nichts Verlässliches. Sie beginnen mit ein paar Behauptungen und vielen Möglichkeiten. Machen erst große Versprechen, und dann doch, was sie wollen. Manchmal lassen sie sich umstimmen. Mutter hat sich wirklich bemüht. Und trotzdem: Sie ist kein Vater geworden, keine Sängerin, kein Apfelbaum - zumindest nicht auf Dauer."

 

So gut es geht, kümmert sie sich noch um den Garten, vor allem um ihre Apfelbäume. Sie stehen für Kontinuität, in jedem Frühjahr blühen sie, schenken ihr im Herbst ihre Früchte.

 

Das Haus und der Garten sind Spiegel ihrer selbst. So ist der Heizkessel im Keller das "Herz des Hauses". Regnet es, zieht sie Furchen, in denen sich der Regen sammelt: "Mutter will Tiefgang. Die Kraft kommt aus der Mitte ihres Körpers, die Bewegung aus dem Innersten der Erde". 

 

Großen Raum im ersten Teil des Buches nehmen ihre Zähne ein. Sie hat Angst, sie zu verlieren, auch wenn sie ihr Schmerzen bereiten. 

In der Traumdeutung stehen Zähne u.a. für Sexualität. Diese spielt noch immer eine Rolle in Mutters Leben, sie ist ein sinnenfroher Mensch, der sich nach Berührung sehnt, von vergangenen Liebschaften und dem Meer träumt, es liebt, zu baden und im warmen Wasser all ihren Körperteilen Freiheit zu schenken.

 

Ein Rohrbruch im Keller ist ein Wendepunkt des Romans.

Als Mutter hinuntergeht, um nachzuschauen, was dort passierte, stürzt sie, schlägt sich die Vorderzähne aus, bekommt ein Gebiss - und kehrt nie mehr in ihr Haus zurück. Sie zieht in eine kleine Wohnung in der Stadt.

 

Ein anderes Thema ist das Suchen nach der eigenen Stimme. 

Mit der Zahnprothese verändert sich auch die Stimme der Frau, die neun Sprachen spricht. Eine davon ist ihre "Haussprache".

Um ihre neue Stimme auszuprobieren, geht sie immer öfter in eine Telefonzelle, wählt eine Nummer, gibt ein paar Laute von sich, "will ihre neue Stimme zum Reden bringen." 

Sie "rezitiert Gedichte, flüstert Geschichten, krächzt Chor-werke." Später übt sie, "eigene Worte zu finden."

 

Einmal, als eine Frau am anderen Ende der Leitung ist, "überkommt es Mutter. Sie verschlingt die Sprechmuschel, leckt, lutscht, stöhnt. Und die Stimme antwortet: strömt aus dem anderen Ende des Hörers, wird immer höher und trockener. Jemand hämmert an die beschlagene Scheibe, aber Mutter lässt sich nicht aufhalten, nicht jetzt. Endlich kommt die Stimme. Kommt in kurzen spitzen Schreien."

 

Es ist faszinierend, wie Katharina Mevissen, geb. 1991, ins Innerste ihrer so viel älteren Protagonistin schaut. Sie legt Fäden aus, die sie zu einem immer dichter werdenden Gewebe verknüpft. Dass das Alter manche Mühsal mit sich bringt, manche Verrücktheit, dass Vieles zu Ende geht, führt die Figur der Mutter vor Augen, sie zeigt aber auch, dass sich manche Türen nie schließen, dass es Lippen gibt, die nicht schweigen wollen.

 

"Mutter sagt mit der dunklen dritten Stimme: Hier bin ich. 

Sie löst das Gebiss von ihren Kieferknochen und legt es in Salzwasser ein. Streckt die Zunge heraus: eine bleibende Zunge. Ihre bleibenden Zähne hingegen treiben aus im Erdreich. Bis auf die vier Eckzähne, sie ruhen aus in Mutters Brusttasche.

Sie löscht das Licht und legt sich schlafen. Ihr Körper ist ein großzügiger, warmer Raum. In dieser Nacht träumt Mutter in allen neuen Sprachen. Wandelt nicht, wälzt sich nicht.

Leise liegt das Meer hinter ihren Lidern: salzig und blau."

 

Hieß es am Beginn der Geschichte "Ihr Körper wird nicht mehr gebraucht", steht am Ende "Hier bin ich".

 

Sie wird wieder schwimmen gehen, sie wird weiter mit ihrer wiedergefundenen oder auch neuen Stimme sprechen und singen.

 

Feine Zeichnungen von Katharina Greeven ergänzen den Text, der nicht zuletzt ein Märchen und ein langes Gedicht ist. Sie zeigen Zähne!

 

 

 

 

 

 

 

 

Katharina Mevissen: Mutters Stimmbruch

Illustriert von Katharina Greeven

Wagenbach Verlag, Quartbuch, 2023, 112 Seiten