Charlotte Mew - Einige Arten zu lieben

Erzählungen

Charlotte Mew (1869-1928) ist eine der vielen zu Unrecht vergessenen Schrift-stellerinnen. In den 1980er Jahren wurde sie in England aus der "Rumpel-kammer der Literatur" herausgeholt, neu ediert und wieder gelesen. Nun liegen elf ihrer achtzehn Erzählungen erstmals auf Deutsch vor - welch eine Entdeckung! Eine Aussage Virginia Woolfs ziert das Cover, sie sagte, "Die größte lebende Dichterin" - fürwahr.

 

Zu Lebzeiten war ihr ein schmaler Ruhm vergönnt, zumindest wurden einige ihrer Erzählungen, Gedichte und Essays veröffentlicht. Diese wurden heiß diskutiert, denn sie verstörten manchen Lesenden: ist der Erzähler weiblich oder männlich? Sind die Figuren in den Geschichten Mann oder Frau? Handelt es sich um auf Erfahrung basierende Werke oder sind sie reine Phantasieprodukte? Woher kommt die unheimliche Nähe, häufig Paarung, von Liebe und Tod? 

Ich frage mich, wie schafft eine Autorin es, derart vielfältig zu schreiben? Jede Erzählung ist von solch einzigartiger Qualität, jede scheint aus einer anderen Feder zu stammen, jede bannt die Lesenden, aber jede erklingt in einem anderen Ton. Sie ist eine glänzende Porträtistin, fügt ihren Figuren mit feinsten Pinselstrichen immer noch eine Nuance hinzu. Sie versteht sich auf Dialoge, auf Beschreibungen von Mensch und Natur, sie denkt und fühlt sich in die verschie-densten Szenarien ein. Sie erschafft mit kurzen Sätzen höchste Spannung, erzeugt mit langen Sätzen, die von Einschüben und Wendungen geprägt sind, einen Sog, dem man sich nicht entziehen kann.  

 

Hier ein Beispiel aus "Ein Hochzeitstag":

"Behutsam macht der Sonnengott sich daran zu erscheinen, verjagt die grauen Schatten der furchtsamen Dämmerung und breitet die zarten Farben der Liebe, denn es ist ein Hochzeitsmorgen, über dem Himmel aus. Er ist selbst ein feuriger Liebender. Am Abend sieht man dann die blutigen Tränen, mit denen er die Erde zum Abschied überschüttet. Dies hier ist ein erster errötender Gruß, doch wenig später gibt es einen leidenschaftlichen Abschied."

 

Bäume sind in dieser Geschichte nicht alt, es sind Bäume, die "ihre Wiegenlieder vergessen haben", vereiste Wege sind nicht rutschig, "der gefrorene Weg in der kalten Morgen-dämmerung (könnte) warme Küsse von unwilligen Lippen einfordern."

 

Hier verleiht sie der Natur menschliche Eigenschaften, in "Weiße Welt" wird sie zum Ort einer "sich auflösenden Existenz": ein Liebespaar flieht, doch es findet nicht das Glück, sondern den Tod in einer zu Eis erstarrten Welt.

 

Liebe und Tod sind häufig nah beieinander. So entzieht sich "Mark Staffords Frau" ihrem Ehemann durch den Tod. Sie verfügte einst über eine "glänzende Gesundheit" - doch gerade diese "gemahnte" an "eine Zerbrechlichkeit".

Am Anfang der Ehe versuchte sie einen Bereich ihres Herzens für sich zu behalten und vor fremden Blicken, auch denen ihres Mannes, zu schützen, doch sie zerbricht genau daran. Sie entwickelt den Wahn, es gäbe einen "Schrecken", der "direkt über ihre Schulter in ihre Seele blickt." 

Später hält die Erzählerin die Platte eine Photos in der Hand, hinter Kates Gesicht, dicht über ihrer Schulter, erscheint dort "das Gesicht ihres Mannes - Marks" Gesicht. Seine Liebe - war es Liebe oder ein Alp? - nahm ihr die Lebenskraft.

 

Nicht nur hier dringt das Phantastische direkt in das Leben der Menschen ein. Darin spiegelt sich eine Mode der Jahr-hundertwende, doch Charlotte Mew setzt es ein, um tiefer in die Seelen ihrer Protagonisten zu blicken. Wie verhalten sie sich angesichts des Unwahrscheinlichen, des Unmöglichen? Wie weit bestimmen sie ihr Schicksal selbst, an welchem Punkt schicken sie sich drein?

 

Ganz irdisch thematisiert sie wie nebenbei Strukturen inner-halb von Familien, in Ehen, in der Gesellschaft. 

Meist sind es die Frauen, die ihr Herz verschenken, ist es ein Mann, der Gewinn daraus zieht. So ein Möchtegernkünstler, dessen Kunst hauptsächlich darin besteht, eine sehr freund-liche Dame um die vierzig auszunehmen.

Es sind aber auch Frauen, die grimmig den gebotenen Anstand verteidigen, so in der Geschichte "Eine offene Tür": Lady Armitage verurteilt den Plan ihrer Tochter Laurence, Missionarin zu werden (diese entzieht sich mit diesem Plan der Ehe).

"Es klingt so ordinär und - und - gewaltsam. Man kennt ja zwei oder drei nette Mädchen, die enttäuscht wurden oder missgebildet sind und, wie es sich gehört, den Schleier genommen haben, - aber - eine Missionarin! Wie ich Laurence gesagt habe, als sie damit herausrückte, warum nicht ein Kasuar oder ein Känguruh!"

 

Oder aber Charlotte Mew kehrt das Gewohnte um: In "Das Lächeln" ist es eine alte Frau, die mit ihrem Lächeln alle bezaubert. Viele versuchen, sie auf ihrem Berg zu erreichen, sie scheitern. Auch die junge Frau, die völlig in den Bann der alten gezogen wurde, bezahlt mit dem Leben.

 

Jede einzelne Erzählung ist eine Überraschung, birgt bis zum Schluss Rätselhaftes. Charlotte Mew folgt ihrer eigenen Logik, nicht zuletzt das macht ihre Literatur so faszinierend. Sie steht an der Wende vom Viktorianischen Zeitalter zur Moderne, viele literarische Vorbilder werden genannt - alles lässt sich nachvollziehen, herauslesen, doch der bleibende Eindruck ist der, dass hier eine Frau schreibt, die sich nicht an Genres oder Erzählvorgaben hält, hier schreibt eine Frau, die ganz und gar eigenständig agiert.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Charlotte Mew: Einige Arten zu lieben; Erzählungen

Aus dem Englischen von Wiebke Meier

Mit einem Nachwort von Ina Schabert

C.H. Beck Verlag, 2025, 271 Seiten