Patrick Modiano - Die Kleine Bijou

Alle Romane des Nobelpreisträgers von 2014 spielen in Paris. Und sie sind geprägt, fast könnte man sagen getränkt von der Atmosphäre dieser Stadt.

Man könnte die Wege der Protagonisten nachgehen, sich auf ihre Spur begeben, und so die Stadt wie einer ihrer Bürger erleben, abseits der Touristenpfade. 

 

 

"Die Kleine Bijou" ist die jetzt neunzehnjährige Thérèse, die vor kurzem in ein kleines Studio gezogen ist. Früher war das Haus ein Hotel, die Zimmer wurden aber umgewandelt.

Das besondere: die Adresse dieses Hotels steht in ihrem Geburtsschein (sie dürfte ungefähr Jahrgang 1942 sein), denn ihre Mutter wohnte zu dieser Zeit dort. Thérèse fühlt sich, als würde sie zurückkommen, als würde ein Kreis sich endlich schließen.

Ihren Vater hat sie nie gekannt, die Mutter Suzanne verschwand als Thérèse fünf Jahre alt war nach Marokko (das Kind blieb bei einer Freundin der Mutter) - dort verstarb sie vor zwölf Jahren. Ihre Tochter erfuhr nie wo genau oder unter welchen Umständen.

 

Thérèse war schon als kleines Kind gezwungen, sehr selbständig zu sein. Ihre Mutter war Tänzerin, nach einer Knöchelverletzung konnte sie nur noch in kleinen Theatern tanzen, der erträumte Ruhm blieb aus. Und auch aus der Tochter wurde nicht die erhoffte Künstlerin.

Mutter und Tochter wechselten oft die Wohnung, einige Zeit lebten sie jedoch in einer großen Wohnung am Bois de Boulogne - viel zu groß und leer waren die Räume, viel zu groß das Unbehagen des Kindes, wenn es alleine dort war. Und viel zu oft kehren die Gedanken an diesen unheimlichen Ort zurück.

 

Es hing ein vergoldetes Schild an der Tür, in dieses war der Künstlername der Mutter eingraviert: Comtesse Sonia

O´Dauyé. Sie hat einmal in einem Film mitgespielt, auch Thérèse durfte eine kleine Rolle spielen - ihr Künstlername für diesen Film war "Die Kleine Bijou".

Warum bestand die Mutter darauf, dass ihre Tochter auch mitspielt? Das fragt sich Thérèse später. Sie erkennt, dass sie für die Mutter lediglich ein Accessoire darstellte, ein kleines Schmuckstück für die elegante Dame. 

Kurz zuvor war der Hund des Mädchens verschwunden, die Mutter hat ihn im Park verloren. Einfach nicht mehr an ihn gedacht. Genau so fühlt sich die Tochter: eine Weile ganz nett, aber im Grunde ohne Belang für die Mutter, eines Tages wird sie sie genau so vergessen wie den Hund.

 

"Ich war von Beginn dabei. Und auf dem Photo fand ich die Accessoires und Einzelheiten wieder, die mich sozusagen mit dem BRENNEISEN markiert haben. Das lange, an der Taille spannende Tüllkleid meiner Mutter, das enge Samtmieder und der weiße Schleier, der ihr, in der grellen Beleuchtung, etwas von einer falschen Fee gab. Und ich in meinem Kleid? - war nichts als ein falsches Wunderkind, ein armseliges kleines Zirkusgeschöpf. Ein Pudel."

 

Thérèse hat mit vierzehn die Schule verlassen, seitdem diverse Arbeitsstellen gehabt. Verkäuferin, Bedienung, gerade genug für den Lebensunterhalt.

Sie hat sich mit Mühe eingerichtet in einem einfachen, ziemlich einsamen Leben.

 

Da glaubt sie eines Abends in der Metrostation Chatelet ihre Mutter wieder zu sehen. Zwölf Jahre nach ihrem Tod, in einen abgetragenen gelben Mantel gekleidet, abwesend, mit dem Gang einer Tänzerin.

Thérèse folgt der Frau hinaus in einen Vorort, dort betritt diese ein großes Haus, nimmt den Eingang A und verschwindet. Thérèse ist erschüttert.

Sie kommt mehrere Male zurück, unterhält sich mit der Concierge über die Frau aus der 4. Etage, erfährt, dass das Madame Boré ist, man nennt sie Täusche-den-Tod - weil sie manchmal abtaucht und dann plötzlich wieder da ist.

 

Thérèse stürzt in einen Strudel aus Erinnerungen an ihre Kindheit, an ihre verzweifelte Suche, an ihre Einsamkeit.

Sie ist sehr tapfer, hegt im Grunde nicht einmal einen Groll, sie will "nur" Klarheit, sucht nach einem Fixpunkt, von dem aus eine Zukunft beginnen könnte.

 

Sie arbeitet zu der Zeit für ein Ehepaar auf dessen Mädchen sie aufpassen soll. Die Eltern sind betuchte Leute, die in einem großen, leeren Haus leben, arbeiten, ausgehen, die Tochter niemals mit ihrem Namen ansprechen. Sie ist "Du" oder "die Kleine". Dieses Kind streift abends durch die Stadt, um ihre Angst vor der Dunkelheit zu besiegen (die Eltern finden das gut), sie wünscht sich einen Hund, um nicht allabendlich alleine zu sein (das kommt gar nicht in Frage), sie steht reglos das, wenn ihr keiner die Tür öffnet.

Eines Tages ist die Familie Valadier einfach verschwunden, Thérèse hat keine Nachricht bekommen, keinen Hinweis.

 

Das ist alles so nah an ihrer eigenen Geschichte, dass man versucht ist zu glauben, die Familie Valadier sei ein Traum bzw ein Alptraum von Thérèse.

 

Die Begegnung mit Täusche-den-Tod wirft Thérèse aus der Bahn, sie erkennt:

"Ich war dieselbe geblieben, so als sei Die Kleine Bijou konserviert worden in einem Gletscher. Immer noch die Panik, die mich befiel mitten auf der Straße oder mich gegen fünf Uhr früh aus dem Schlaf schreckte. Und doch hatte ich lange Perioden von Ruhe erlebt, wo alles vergessen war. Doch nun, da ich meine Mutter nicht mehr tot glaubte, wußte ich nicht mehr wohin." 


Ein Lichtblick für die junge Frau sind ein Mann, zu dem sie Vertrauen fasst - er spricht über zwanzig Sprachen und versteht auch sie - und er hört ihr zu. Er spricht sogar das Persisch der Steppen, eine Abwandlung des Persischen, die Thérèse besonders fasziniert (und vielleicht ein kleines Licht auf ihr Inneres wirft).

Und sie lernt eine Apothekerin kennen, die ihr in einer besonders schwierigen Situation ein beruhigendes Medikament gibt, sie nach Hause bringt und auch die Nacht über dort bleibt. Sie ist eher eine gute Fee als ein Mensch (wer tut so etwas für eine völlig fremde Person?) und sie ist diejenige, die sie findet, als Thérèse beschlossen hat, für immer ihre Ruhe haben zu wollen.

 

Der Roman ist schmal, aber atmosphärisch so dicht, dass er auch den dreifachen Umfang haben könnte, ohne aufgebläht zu wirken. Es ist kein Satz zu viel in diesem Buch, er erfordert konzentrierte Lektüre, weil jedes Wort wichtig ist.

 

Ein ganz kleines Beispiel: "Ich hatte die Telephonnummer von Moreau-Badmaev vertan."

Man kann den Zettel, auf dem eine Telephonnummer notiert ist, verlegen, verlieren, vergessen, aber bei "vertan" schwingt "eine Chance vertan" mit. Das gibt dem Verlieren einer Notiz eine schwerwiegendere Bedeutung.

Solche Feinheiten sind auch der Übersetzung durch den Dichter Peter Handke zu verdanken, der Modiano für den deutschen Leser entdeckt hat.

 

Das Mädchen der Valadiers, die Apothekerin als gute Fee (die Mutter war auf dem Foto eine "falsche Fee" gewesen), Moreau-Badmaev, der ein bisschen an den Onkel Bori erinnert (der einzige, der sich jemals um das Kind Thérèse gekümmert hat): Modiano legt feine Spuren (noch viel mehr als die hier angedeuteten), die sich durch den ganzen Roman ziehen und deren Komplexität sich erst bei der zweiten Lektüre des Romans erschließen.

Sie sind wie ein Wegenetz, das die verschiedenen Zeiten im Leben eines Menschen miteinander verbinden. Auf ihnen kann, will oder muss gegangen werden um einen Fixpunkt zu finden.

Diese Wege werden im Roman oft mit der Metro zurückgelegt, hinaus in die Vororte, quer durch die Stadt, dann wieder zu Fuß durch die Nachbarschaft oder wenn die Metrostation eine zu große Zumutung wäre, einmal ganz komfortabel im Taxi mit der Apothekerin, der Heilkundigen.

Sie spiegeln die Erinnerungswege Thérèses, die noch einmal ganz zum Anfang zurückgehen muss.

 

Am Ende des Romans befindet sie sich auf einer Krankenstation, in einem Glaskasten zwischen Aquarien,

sie hört "das Brausen von Wasserfällen. Lange war ich eingeschlossen gewesen in Eis, und jetzt schmolz es und floß weg. Ich fragte mich, was diese Schatten in den Aquarien wohl darstellten. Später wurde mir erklärt, es habe keinen Platz mehr gegeben, und so sei ich in den Saal der Frühgeburten gelegt worden. Noch lange habe ich das Brausen der Wasserfälle gehört, als ein Zeichen, daß auch für mich, von diesem Tag an, das Leben begann."

 

Hier schließt sich der Kreis nun endgültig. Die Wohnung im ehemaligen Hotel war der Anfang eines spiralförmigen Weges nach Innen und in die Vergangenheit - als Voraussetzung für die Zukunft - gewesen.

Ob die Frau im gelben Mantel wirklich ihre Mutter war, wird Thérèse vielleicht nie erfahren, die Apothekerin war aber ganz bestimmt ihre Hebamme.

 


 

 

 

 

Patrick Modiano: Die Kleine Bijou

Aus dem Französischen von Peter Handke

dtv, 2013, 160 Seiten

(Französische Originalausgabe 2001)