Marino Moretti - Die vorlaute Fischhändlerin

Der opulente, Ende der 1920er Jahre in Cesenatico spielende Roman beginnt mit einem Trauerzug. "Unser größter Fischhändler" wird zu Grabe getragen. Eine "Hundertschaft" Fischhändler befindet sich in diesem "Truppenauf-marsch", die Zunft zeigt ihre volle Stärke und legt aus gegebenem Anlass auch ihre ewigen Streitereien beiseite. Die Witwe Andreana, dreiundvierzig, folgt dem Sarg mit ihren beiden erwachsenen Kindern.
Diese sind Fortunato, der momentan als Matrose in Venedig stationiert ist und keinerlei Interesse am Beruf seiner Vor-fahren zeigt, sowie Anita, die eine Klosterschule besuchte, sehr gebildet und Lehrerin ist, aber nicht die Absicht hat, diesen Beruf auszuüben.
Bereits am Tag nach dem Begräbnis meldet der nun größte Fischhändler des Ortes, Mondo, seinen Besuch bei den beiden Damen an (Fortunato ist sofort wieder abgereist). Mondo findet "die schwarzgekleidete Tochter, die rotgeklei-dete Mutter (vor), und ihm schien, er müsse sich für eine der beiden, für die Alte oder die Junge, entscheiden, um sie in einen wilden Zaubertrick zu verwickeln, bei dem es Dukaten regnen würde."
Dukaten könnte Andreana, die sich für das spektakuläre Rot entschieden hat, um ihre Trauer auszudrücken, gut brauchen. Denn es stellt sich heraus, dass ihr verstorbener Mann nichts als Schulden hinterließ.
Wie schön fügt es sich da, dass Mondo einen Sohn hat, Musiker und Schöngeist, der perfekt zu Anita passt, zu passen scheint. Zunächst lässt sich alles gut an, aber kurz bevor es ernst wird, verschwindet Evardo, angeblich geht er auf Konzertreise.
Anita bleibt verwandelt zurück. Sie hat zumindest ihre geistige Unschuld verloren, brachte Evardo sie doch mit moderner Literatur und ebensolchen Gedanken in Berührung.
Da eröffnet Mondo seiner Freundin Andreana: "Ich werde Anitas Vater, wenn ich schon nicht ihr Schwiegervater sein kann ...".
Andreana wird er heiraten, "dann ist das Brot sicher und auch der Brotbelag und der Fisch jeden Abend..."
Andreana geht also recht schnell die nächste Ehe ein, die Kinder (!) wollen versorgt sein. Und sie bleibt die Frau des größten Fischhändlers, bis auch Mondo sich auf geschäft-liches Glatteis begibt. Mascha, eine Tänzerin, die aus einer Fischerfamilie stammt, d.h. aus einfachsten Verhältnissen kommt, hat ihm den Floh ins Ohr gesetzt, unbedingt einen Brodetto, die berühmte Fischsuppe, als Konserve anzubieten. Weltweiter Vertrieb lockt, ein einzigartiges Geschäft.
Dabei sinnt Mascha auf nichts anderes als Rache. Es geht um den uralten Zwist zwischen Fischern und Fischhändlern, das Geld machen immer die Händler.
Sie schwatzt ihm nicht nur die Dosensuppe, sondern auch eine Villa und die Rückkehr zu seiner ehemaligen Geliebten auf - alles steuert auf eine große Katastrophe zu.
Und Andreana? Warum reagiert sie nicht? Sie ist mit ihrer Vergangenheit in Chioggia beschäftigt, mit einem Ereignis vor mehr als zwanzig Jahren, und mit einer ungeheuerlichen Enthüllung. Mascha nutzt Andreanas temporäre Abwesen-heit, um ihr vernichtendes Spiel in die Tat umzusetzen.
Der Roman ist ein grandioses Bild der Küstenstadt Cesenatico, die man heute hauptsächlich als Badeort kennt. Marino Moretti wurde 1885 dort geboren, 1979 verstarb er in seiner Geburtsstadt. Bis ins kleinste Detail zeichnet er die Besonderheiten der Stadt nach, geht auf die Rivalitäten mit den Nachbarstädten ein, lässt seine Figuren in unterschied-lichen Dialekten sprechen - die Übersetzerin Judith Krieg hat das ganz wunderbar nachvollzogen - zeigt auf, wo die alte Art zu fischen einer neuen Platz macht. Sein Herz gehört den mit den Insignien ihres Erfolgs prahlenden Händlern, aber auch den "Seelumpen", den armen Zuarbeitern. Er zeichnet jede Person, ob Dienstmädchen oder Laufbursche, ob Haupt- oder Nebenfigur mit einer solchen Genauigkeit und Treffsicher-heit, dass man meint, die Person stünde vor einem.
Er liebt es zu fabulieren, immer wieder mit seinem Witz zu überraschen, eine ganze Welt in einen kleinen Satz zu legen, wie "es erschien ihr sonderbar, dass neben ihr so etwas wie ein Ehemann lag, ein großer, lebloser Körper, schwer und prall von Schlaf". Er gibt seiner Geschichte die tollsten Wendungen, die Überraschungen in einer Welt, in der scheinbar alles vorgezeichnet ist, sind enorm. Und er lässt seine Figuren Entwicklungen durchlaufen, die zum Staunen bringen.
Andreana, die zunächst die Schiffbrüche in ihrem Leben ohne große Reaktionen hinnimmt, immerhin muss sie nach dem Verlust ihres ersten Mannes den des Sohnes und auch den der Tochter erleben, wächst angesichts des Ausfalls auch ihres zweiten Mannes über sich hinaus. Sie hatte schon immer Geschäftssinn, nun erwacht in ihr die Händlerin.
"Arbeiten musste sie, die Familie und ihr Zuhause wieder aufbauen, wenn sie tatsächlich - und ja, dem war so - zum Ausgangspunkt zurückkehrte, um ganz von vorn anzu-fangen." Fünfundvierzig ist sie nun, unerwartet noch einmal schwanger, und wechselt die Seite: von der Käuferin zur Verkäuferin. Ein Stand auf dem Markt, eine Waage, Mut und nicht zuletzt Unverfrorenheit, das genügt der entschlossenen Frau für einen Neuanfang.
Schnell lernt sie auch die Sprache der Händler. So schleudert sie Chilazz, ihrem Gehilfen, zu:
"Ach ja? Meinen ersten Mann habt Ihr also beklaut? Und meinen zweiten Mann genauso? Nicht mit mir! ...
Verdammtes Miststück! Verfluchtes Aas! Verbrecher! Zum Fischmarkt, los!"
Marino Moretti: Die vorlaute Fischhändlerin
Aus dem Italienischen und mit einem Nachwort von Judith Krieg
Edition Converso, 2024, 320 Seiten
(Originalausgabe 1935)