Ion Postolache - Raureif - Erinnerungen aus Moldau

"Um nicht zu vergessen, was meine Großeltern aus dem Leben ihrer eigenen Großeltern erzählten, schreibe ich diese Zeilen nieder, Zeilen, die meinen Enkeln, so denke ich, von Nutzen sein werden, sie werden ihnen anschaulich machen, wie das Leben der Moldauer seit vielen Generationen bis in unsere Tage verlief. Diese Aufzeich-nungen wird man in der Geschichts-schreibung, wie die Historiker sie betreiben, nicht finden; die sind immer in Angst, dass die Wahrheit die politischen Führer ihrer Zeit verärgert. Die Berichte der Alten, der Großeltern und Urgroßeltern, kommen der Wahrheit am nächsten."

 

Dieser Gedanke findet sich in einem Kapitel, das die Über-schrift "Wer den Moldauern seit altersher das Leben verdarb" trägt. Schon damit wird deutlich, dass die Moldauer von verschiedenen Seiten in die Zange genommen wurde, dass sie es nie leicht hatten.

 

Ion Postolache, 1918 geboren, wurde mindestens 94 Jahre alt. Er führte über Jahrzehnte hinweg ein Tagebuch bzw Notizheft, das nun von seiner Enkelin, der international bekannten Geigerin Patricia Kopatchinskaja, veröffentlicht wurde. Sie ist also eine der von ihrem Großvater erwähnten Enkeln, denen sein Bericht "von Nutzen sein" sollte. Sie schreibt in ihrem informativen und auch sehr persönlichen Vorwort:

"Ich bin ein Flüchtlingskind. Die Erinnerungen sind das einzige, was mich mit dem Land verbindet, das in meinem Pass als Geburtsort erwähnt ist."

 

Mit ihrer Mutter verließ sie das Land Anfang der 1990er, sie wuchs in Wien auf. Einer für sie vollkommen anderen Welt.

 

Das Land, das Ion Postolache beschreibt, ist erst mit dem Ukraine-Krieg wieder ins Bewusstsein des Westens gerückt. Es ist ein kleines Land zwischen der Ukraine und Rumänien gelegen, es deckt sich ungefähr mit dem alten Bessarabien, das zwischen der Türkei, Russland und Rumänien hin- und her geschoben wurde.  Nach dem Ersten Weltkrieg wurde es weitgehend rumänisch, 1944 Teil der Sowjetunion, seit 1991 ist es ein eigenständiger Staat.

 

Ion Postolaches erster Tagebucheintrag stammt aus dem Jahr 1946, der letzte von 1992. Ein halbes bzw. ein ganzes Jahr-hundert wird hier betrachtet, denn er fängt mit dem Leben seiner Großeltern an. Fleißige Bauern waren sie, wie auch seine Eltern. Der Vater war stets bemüht, den Hof zu ver-größern, alles Geld floss in den Kauf von Land. Dieses musste bearbeitet werden. So kam es, dass Ion nur vier Jahre zur Schule gehen konnte, danach war er eine volle Arbeitskraft auf dem Hof, angefangen mitzuhelfen hatte er freilich schon erheblich früher. 

 

Er beschreibt seinen Alltag, den Unfug, den er als Jugend-licher anstellte, wie er eine Frau fand und zu seiner Arbeit als Veterinär kam, wie er sich im Leben etablierte.

 

Sein privates Leben bettet er ein in die Geschichte der Zeit. Diese ist von Kriegen, der Kollektivierung der Landwirt-schaft, von Enteignungen und Deportationen, von all dem geprägt, was Staatenlenker ihrem Volk zumuten. 

 

Er schreibt über seinen Einsatz im Krieg, zuerst in der rumänischen Armee, dann in der sowjetischen, er schreibt über die Hungersnot nach dem Krieg, als die Sowjets alles konfiszierten, er berichtet über den Werdegang seiner drei Kinder und am Ende über die Entwicklungen in der Sowjet-union und den Zerfall der Republik unter Gorbatschow.

 

In einem Eintrag, in dem er die Jahre 1958-1964 zusammen-fasst, konstatiert er:

"Für den Augenblick halte ich hier inne und danke Gott, dass er mich erhalten und mir aus allen Nöten geholfen hat: die Front, die Deportation, der Typhus, der viele Menschen das Leben kostete. Und ich danke der Sowjetmacht, dass sie mir die Möglichkeit gegeben hat zu lernen, meinen Kindern ein Lehrer zu sein und einen Kanten Brot zu essen zu haben."

 

Hier spricht er von "Nöten", ohne zu erwähnen, wer diese in sein Land und sein Leben gebracht hat. Der Dank an die Sowjetmacht ist hintergründig, steht sie doch hinter einigen dieser "Nöte" und hatte sie sich nicht auf die Fahnen geschrieben, den Menschen ein besseres Leben als unter den Großgrundbesitzern zu gewährleisten?

 

Bemerkungen wie diese und auch die ganz offen geübte Kritik an den Mächtigen zeigen, wie wichtig diese Art der Geschichtsschreibung ist:

 

"Das war die Sowjet-Verfassung, wie sie in allen Losungen gerühmt wurde: "Es lebe die Sowjetische Verfassung". Das Volk wurde auch noch gezwungen, laut zu rufen, sie wäre heilig, recht und billig. Und damit verurteilten sie jetzt also unschuldige Menschen, man gab ihnen das Land nicht zurück, das ihnen zuvor geraubt worden war, das Pferd, den Pflug, den Wagen, die Saat, die ebenfalls von der Kolchose eingezogen worden waren, man zwang ihnen Arbeiten auf, die ohne all das unmöglich zu erfüllen waren, um sie dann erbarmungslos zu verurteilen und sieben oder acht Jahre ins Gefängnis zu stecken. Soll man da noch immer sagen, das Volksgericht sei ein gerechtes und sowjetisches Gericht im Dienste des Volkes? Man fragt sich wieder: Wo bleibt hier die Vernunft? Wo ist die viel gepriesene sowjetische Gerechtig-keit? Wieso schämten sich solche Richter nicht, den Namen Sowjetrichter zu tragen? Ich glaube, nur in einem Sowjetland können solch erbärmliche Wunder passieren."

 

Solch kritische Gedanken an Machthabern zu äußern dürfte auch heute in vielen Ländern schwierig sein - sie finden sich in privaten Notizen, die dann doch in manchen glücklichen Fällen wie diesem den Weg an die Öffentlichkeit finden.

 

"Er besaß Humor und Ironie, aber ohne jemanden zu beleidigen, er dachte sich immer das Seine. Man lernt es in einem totalitären Staat, Dinge nicht auszusprechen, aber um so mehr, nachzudenken."

 

Dies schreibt Patricia Kopatchinskaja über ihren Großvater, die nun von Eva Ruth Wemme und Andreas Rostek ins Deutsche übertragenen Erinnerungen sind Zeugnis eines kritischen, nachdenklichen und lebendigen Geistes, der nicht bereit ist, die Dinge einfach so hinzunehmen. 

Die Notizbücher sind ein seltener Einblick in ein Land, das uns durch die Zeitläufte näher gerückt ist.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Ion Postolache: Raureif - Erinnerungen aus Moldau

Ins Deutsche übertragen von Eva Ruth Wemme und

Andreas Rostek

edition.fotoTapeta, 2024, 170 Seiten