Josepha Mendels - Du wusstest es doch

"Weißt du, worauf du dich einlässt, Wichtel?", fragte er dann. "Ich bin verheiratet, ich habe eine Frau und zwei Kinder. Ich weiß nicht, ob ich Marjolijn noch liebe, aber wenn ich sie später dann wiederfinde, gehe ich zu ihr zurück. Du hast ein warmes Herz, ich möchte dir nicht wehtun."

So "Rädertier" zu Henrietje Bas, seiner Geliebten in London.

 

Der Reihe nach: der Dichter Frans Winter, verheiratet mit Marjolijn, Vater zweier kleiner Kinder, verlässt 1943 die Niederlande während der Besetzung durch die Nazis.

Er flieht über die Berge nach Spanien, kommt dort in Haft, kann aber von Madrid aus nach London weiterziehen,

wo er in einem Büro arbeitet.

 

Im Hyde Park lernt er die Holländerin Henrietje Bas kennen, auch sie ist ein Flüchtling in Großbritannien. Sie bezeichnen sich als "jüdische Heiden", doch man weiß, dass viele Juden erst durch die neue Gesetzgebung dazu gemacht wurden.

 

Sie kennen sich noch nicht lange, da fragt Frans:

"Willst du mein Wichtel werden? - Gern, antwortet sie ohne Weiteres."

Eine solche Figur stand im Garten seines Elternhauses.

Wenn er nachts Angst hatte, ging er zum Wichtel, der in seinen Augen ein Mädchen war, und erzählte ihm alles.

"Ja, das Wichtelchen hörte zu, kommentierte aber nichts."

 

Eine solche Gefährtin hat der Familienvater nun unversehens gefunden. 

 

Nach kurzem Nachdenken gibt auch Henrietje ihm einen Namen:

"Rädertier, du bist ein Rädertier. ... Weiß du, dass ihre Körper so durchsichtig sind, dass man durch ein Mikroskop beim lebenden Tier sogar jedes Detail der inneren Organe sehen kann? Ist das womöglich auch bei dem von mir gerade entdeckten Rädertier der Fall, was die Windungen seiner Gedanken angeht?"

 

In diesem Ton sprechen die beiden miteinander.

Er ist federleicht, ohne Pathos, ehrlich, verspielt, voller Phantasie, liebevoll und kein bisschen oberflächlich.

 

Als er bei ihr einzieht, ist es das erste Mal, dass sie ihre Unabhängigkeit aufgibt. Sie tut es in dem Wissen, "dass ich wieder allein sein werde, sobald Frieden ist."

 

In zwei Bücher mit siebzehn durchgezählten Kapiteln ist der Roman unterteilt. Das erste Buch ist mit "Formen der Liebe" überschrieben. Es erzählt von Frans´ Flucht, davon, dass er nun nicht mehr ein Mensch mit allen Rechten, sondern ein Flüchtling ist, von den Malaissen, die Frans mit den Ohren und Henrietje mit den Nieren hatte, vom Zimmervermieter, der ein falsches Selbstporträt von sich zeichnet, von den wunderbaren gemeinsamen "Räubersonntagen" - der Zeit und dem Alltag abgetrotzte gemeinsame, echte Zeit -, es erzählt von der Treue der beiden Liebenden (in zwei Kapiteln, die einander spiegelbildlich gegenüberstehen), 

es berichtet von der wunderbaren und unglaublichen Geburtstagsparty, die Wichtel für ihr Rädertier ausrichtet,

es erzählt vom Trübsinn, der Wichtel manchmal besuchen kommt, und wie sie ihn vertreiben kann - und, im letzten Teil des ersten Buches, spricht es von der Liebe an sich.

 

Das zweite Buch wendet sich der Zeitgeschichte zu.

"Jude", "Mirjam" und "Tagebuchblätter an eine Tote", die ersten drei Teile, sind eine Geschichte innerhalb des Romans.

 

Mirjam, Henrietjes Schwester, ist mit ihrem Mann und den beiden Söhnen in Holland geblieben. An ihrem achtzehnten Hochzeitstag, im Juli 1942, müssen sie fliehen, keiner weiß, wo sie geblieben sind. Ihr Mann hatte auf die Vernunft vertraut, auf den Schutz durch die niederländischen Gesetze, auf die angestammten Rechte der jüdischen Bevölkerung.

 

Exemplarisch wird hier ein Leben dargestellt, das nach den Regeln der Ordnung verlief - plötzlich ist nichts mehr in Ordnung. 

 

"Branca Winter, geboren 8. April 1893, verstorben in Theresienstadt, 6. April 1943. Yvette Duclos."

Ein Jahr später erst erfährt Frans vom Tod seiner Mutter, mittlerweile war auch die Mitgefangene Yvette gestorben und konnte die Nachricht nicht mehr selbst übermitteln.

 

Frans richtet einen langen Brief - er nennt ihn Tagebuch-blätter - an die Mutter, er kann nicht glauben, dass sie tot ist. Alleine dieser Brief fasst ein ganzes Leben, allen Schmerz, den ein Mensch erleben kann und all die Hoffnungen, die er hat oder hatte. Auch hier blitzt noch an manchen Stellen der Schalk des Dichters durch, ohne damit der Tragödie etwas von ihrem Gewicht zu nehmen.

Alleine dieser Brief ist großartige Literatur, doch nicht nur dieser, sondern der ganze Roman.

 

Es folgt die Vorbereitung auf die Rückkehr nach Holland, 

zur Familie, in das alte Leben.

"Ich war ein Flüchtling, ich wurde ein Rädertier, ich habe mich zum Stichling bekehrt, ich  bin jetzt ein neues, funkelnagelneues Wesen ohne Namen", so Frans im Niemandsland des Flugzeuges zwischen zwei Welten.

 

Nebst dem Ton, sind die fast jedem Kapitel nachgestellten Bemerkungen, "Im Fernglas", genannt, eine Besonderheit dieses Buches. Der Erzähler schaut durch eben dieses Fernglas, nimmt die Gedanken des vorausgehenden Kapitels auf und erzählt sie weiter.

Nicht unmittelbar zur Geschichte gehörend, manches Mal auch in die Vergangenheit führend, binden sie die Zeit in London in das Leben der beiden Liebenden ein.

 

"Ich will alles und jeden in einen geheimen Winkel meines Herzens schließen, die Mutter, Marjoljn, die Kinder, und mein restliches Herz will ich weit öffnen", so Frans, als er

sich auf die Flucht begibt.

 

Im Fernglas sind sie noch sichtbar, die Menschen und Ereignisse der Vergangenheit, aber die Gegenwart gehört dieser kompromisslosen Liebe mit der unabhängigen Henrietje, seiner "Federgestalt", seiner "Schwerelosigkeit".

 

Am Ende wird Wichtel diejenige sein, die den Geliebten tröstet:

"Mein lieber, lieber Junge, du wusstest es doch, Rädertier, dass es nicht länger dauern würde als bis zum Frieden..."

 

 

Josepha Mendels, 1902-1995, führte ein ungewöhnliches und sehr selbstbestimmtes Leben - diesen Geist hat sie ihrer Heldin Henrietje verliehen. 

Sie zeichnet eine kluge und liebevolle Frau und einen eben solchen Mann, die eine Liebe ohne Machtansprüche leben.

 

Der Roman liest sich federleicht, er ist sehr komisch und er ist sehr ernst. Die Zeit, in der er spielt, ist finster und tragisch, es darf auch nicht vergessen werden, dass beide Protagonisten im Exil sind, sprich, aus ihrem Leben gerissen wurden. Um so beeindruckender Mendels Fähigkeit, ohne Bitterkeit einen so feinsinnigen und poetischen Roman zu schreiben, der heute noch frisch und unkonventionell ist.

 

 

 

 

Hier noch eine kleine Leseprobe, eine eher unscheinbare kurze Szene, die ganz am Anfang der Beziehung spielt, und einen guten Einblick in den Stil und Ton des Romanes gibt:

 

"Wichtel steckt den Schlüssel ins Schloss und sagt: "Guten Abend, Rädertier, hoffentlich sehe ich dich bald wieder."

Er nimmt ihre Hand und drückt einen Kuss darauf.

Er legt seinen Kopf auf ihre Schulter und sieht sie an.

"Auf Wiedersehen, Wichtel."

Kaum ist Henrietje in ihrem Zimmer, klingelt es viermal hintereinander. Das ist für sie. Sie geht zur Tür, und da steht das Rädertier. "Du wolltest mich bald wiedersehen", sagt er, "nun, da bin ich. Willst du mich nicht hereinbitten?"

 

 

 

 

 

 

 

 

Josepha Mendels: Du wusstest es doch

Übersetzt von Marlene Müller-Haas

Wagenbach Quartbuch, 2018, 192 Seiten

(Originalausgabe 1948)