Steven Millhauser - Stimmen in der Nacht

Steven Millhauser beschreibt in sechzehn meisterhaften Erzählungen die sichtbare Welt, die sogenannte Realität, und die nur ganz knapp daneben oder darunter liegende unsichtbare Welt. Dazu taucht er ein in Mythen, Märchen, in die Bibel und in die Geschichte. Er lässt keinen Zweifel daran, dass es Fäden gibt, die große Räume miteinander verbinden.

 

Schauplätze sind amerikanische Kleinstädte. "Unsere Stadt" ist ein sauberer und aufgeräumter Ort, bewohnt von vernünftigen Menschen - in deren Leben plötzlich etwas bricht, das sie nicht verstehen. 

Nicht woher es kommt und nicht, was es bedeutet.

 

In der ersten Erzählung erwirbt ein unscheinbarer Mann,

der sich die meisten Hoffnungen, die er einst hegte, abgewöhnt hat, eine "Wunderpolitur". Mit dieser reinigt er seinen Spiegel, der ab sofort eine verwandelte Person zeigt.

Nicht jünger und schöner, aber frischer, dynamischer, optimistischer. Auch seine Freundin sieht verändert aus,

der Spiegel zeigt eine verbesserte Version der echten Monica.

 

Man ahnt, wohin die Geschichte führt: in eine Welt des Wahns und der Illusion, die von einer Gewaltexplosion zerstört wird.

 

Eine andere Erzählung berichtet von einer Stadt, in der eine Selbstmordepidemie grassiert.

Jugendliche fangen damit an, um "ihrem Leben Bedeutung zu verleihen, indem sie ihren eigenen Tod wählten. Selbstmord wurde als Akt des Triumphes gefeiert, der die Ziellosigkeit und Leere des gewöhnlichen Lebens in die Gewissheit der freien Entscheidung verwandelt: Sich für den Tod zu entscheiden hieß, die Zufälligkeit in eine Richtung zu lenken."

 

Es folgen die Erwachsenen, die ihr Leben auf dem Höhe-punkt seiner Entfaltung verlassen wollen, bei vollem Bewusstsein.

Dann entscheiden sich auch Kinder für diesen Schritt...

 

In einer weiteren Erzählung wird eine Meerjungfrau an den Strand gespült. Welch ungeheures Ereignis, die Stadt steht Kopf. Die Nixe wird in einer Vitrine im Stadtmuseum ausgestellt, drapiert wie die Kleine Meerjungfrau in Kopenhagen.  

Sie löst Modetrends aus, die Kleidung, die Art sich zu bewegen, die Forderung nach glatten Körpern etc orientieren sich plötzlich an dem schönen Meereswesen.

 

Millhauser spielt mit den Attributen einer Meerjungfrau und mit all den verschiedenen Verhaltensweisen, die sie bei jenen auslöst, die mit ihr in Berührung kommen.

Die Nixe bewirkt vor allem ein Aufbrechen des Versteckten, eine Aufwallung der Gefühle, auch (oder gerade) der sexuellen.

 

"Während die Gerüchte florierten, ... fühlten wir, dass noch mehr auf uns wartete, etwas, das uns mit dem erfüllen würde, was uns fehlte."

Was hier schlicht formuliert wurde, umfasst eine Welt an unerfüllten Wünschen, die auf die kleine Meerjungfrau projiziert werden.

 

Nicht nur hier, in allen Erzählungen geht es um unterdrückte Gefühle, um Illusionen, um die Suche nach einem umfassen-den Leben.

 

In der Erzählung "Ein Bericht über unsere jüngsten Probleme" ist zu lesen:

"Übersättigt von Zufriedenheit, beschwert von Fröhlichkeit, verspüren unsere Bewohner, hin und wieder, eine jähe Sehnsucht: nach dem Ungesehenen, dem Verborgenen.

Unter oder in unserer Stadt erhebt sich eine Alternativstadt - eine dunkle Stadt, die sich dem Aufbrechen von Grenzen verschrieben hat, eine Stadt, die den Tod liebt."

 

Das Übermaß an Perfektion zerstört das Leben der Menschen. Dies verdeutlicht Millhauser in der an den Sirenen-Mythos angelehnten Erzählung ebenso wie im nacherzählten Märchen "Rapunzel" oder in "Arkadien".

 

Am beeindruckendsten ist die letzte und titelgebende Erzählung, "Eine Stimme in der Nacht".

In dieser spannt er den Bogen vom Propheten Samuel, der die Stimme Gottes vernimmt, über einen sieben Jahre alten Jungen aus Connecticut, der in der Nacht auf eine Stimme wartet, zum achtundsechzig Jahre alten Autor, der schlaflose Nächte verbringt und an "den Jungen in dem Zimmer in Stratford, der nach einer Stimme in der Nacht lauscht", denkt.

"War es wirklich so geschehen oder schmückt er es aus? Berufskrankheit. Aber nein, er hatte dagelegen und auf seinen Namen gewartet."

Er erinnert sich an seine Kindheit, er ist Jude, doppelter Außenseiter, da sein Vater sagt, die Bibel wäre eine Geschichte wie jede andere, also Erfindung. Stimmt das?

 

"Alles steht in Zusammenhang: David, der für Saul Harfe spielt, Samuel, der Junge in Stratford, der Klavier übt,

die Cellos und Geigen hinter den geschlossenen Türen.

Der Junge, der nach seinem Namen lauscht, der Mann,

der auf eine plötzliche Eingebung wartet.

Woher kommen deine Ideen? Eine Stimme in der Nacht.

Wann hast du beschlossen, Schriftsteller zu werden?

Vor dreitausend Jahren, im Tempel von Silo."

 

Sehr schön, wie Millhauser in dieser letzten Erzählung vor Augen führt, wie Tag und Nacht, das Sichtbare und Unsicht-bare, Warten und Handeln, Denken und Träumen, zusammengehören. Die Gedanken, die er in den voraus-gehenden Erzählungen aufgefächert hatte, wieder zusammenzieht in ein kunstvoll gestaltetes Triptychon.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Steven Millhauser: Stimmen in der Nacht, Erzählungen

Übersetzt von Sabrina Gmeiner

Septime Verlag, 2018, 400 Seiten

(Originalausgabe 2015)