Octave Mirbeau - Diese verdammte Hand

Dieser Roman, im französischen Original "Dans le ciel", erschien in den Jahren 1892 und 1893 als Fortsetzungs-roman in der Zeitung "L´echo de Paris". Mirbeau (1848-1917) hat ihn nie als Buch veröffentlichen lassen, obwohl

er einer der wegweisenden Texte des ausgehenden 19. Jahrhunderts ist.

Er bricht darin mit dem Naturalismus zugunsten einer Mischung aus Impressionismus und Expressionismus. Der politisch engagierte und sehr an Malerei interessierte Anarchist fand die zeitgenössische Form des Romans überkommen und wollte eine neue schaffen.

 

Zu Beginn lernt der Leser den namenlosen Erzähler kennen. Er lebt in Paris und scheint ein Bohemien zu sein.

Jedenfalls blickt er mit ziemlicher Verachtung auf die Landbevölkerung und ihre rohen Sitten.

Er erhält Briefe seines alten Freundes Georges, er möge ihn doch auf seiner einsamen Bergspitze besuchen.

Seit fünfzehn Jahren haben sich die beiden nicht gesehen,

die Briefe Georges werden immer dringlicher.

Der Erzähler entscheidet sich, zu Georges zu fahren.

 

"Ich wäre gern großzügig, unter der Bedingung jedoch, daß es mich nichts kostet und daß meine Großzügigkeit mir in doppeltem Maße egoistische Befriedigung und eitle Freude beschert. Nun, welche Befriedigung, frage ich Sie? Und wie sollte ich mich vor meinen reizenden Freunden damit rühmen, meine Ferien bei diesem armen Teufel verbracht

zu haben?"

 

Eines solchen Geistes ist also der sogenannte Freund.

Er findet Georges in einem desolaten Zustand vor.

Ausgezehrt und wirr, den Blick stets in den bedrohlich weiten und offenen Himmel gerichtet, lebt er in größter Einsamkeit auf seiner ererbten Bergspitze.

 

"Der Himmel! Oh, der Himmel! Du weißt ja nicht, wie er mich erdrückt, wie er mich zugrunde richtet!", sind eine der ersten Worte, die George an den Freund richtet.

Arbeiten könne er nicht mehr, er habe das Schreiben aufgegeben. Sein einziges Vergnügen ist es, mit den Matrosen in einer Schänke an der Schleuse zu zechen. Dort hinunter steigt Georges regelmäßig, um seinen Schmerz zu betäuben.

 

Bald überreicht Georges dem Freund eine Rolle, sie soll erklären, warum er sich in diesem Zustand befindet.

 

"Ich wurde mit der mißlichen Begabung geboren, aus tiefster Seele zu fühlen, bis es mich schmerzte, bis es lächerlich wurde."

Mit diesen Worten beginnen die Aufzeichnungen.

In ihnen erzählt Georges sein Leben, beginnend in frühester Kindheit.

"Meine Absicht war, ... eine der ungeheuerlichsten Unterdrückungen des Lebens, .. feinfühlend wiederzugeben: die elterliche Macht nämlich. ...Ein unausweichliches Vermächtnis. ... Alle Schuld trägt die Gesellschaft, die nichts Besseres ersinnen konnte, um ihre Diebstähle zu legitimieren und ihre überlegene Macht zu besiegeln, um den Menschen vor allem in einem Zustand des vollkommenen Stumpfsinns und der vollkommenen Sklaverei zu halten, nichts Besseres als diesen staunenswerten Mechanismus der Herrschaft einzurichten: die Familie."

Und an anderer Stelle: "Die Gesellschaft gründet alles auf jene Tatsache: die Unterdrückung des Individuums. ... das Menschliche im Menschen zu töten und das Individuum oder vielmehr die Freiheit und die Revolte durch etwas Lebloses, Willenloses, Fruchtloses zu ersetzen."

 

Nur sehr starke Charaktere verstehen es, sich die Individualität zu bewahren.

Georges meint, einen solchen Charakter in Lucien gefunden zu haben. 

Ihm ist die zweite Hälfte des Romans gewidmet, Georges erzählt das Leben des Freundes. Dieser wird damit zur dritten Erzählebene: Georges spiegelt die Empfindungen des Malers in seinen Aufzeichnungen.

 

Das ist formal ein Ausbruch aus der Erzähltradition des naturalistischen Romans. Er führt hinaus aus der linearen Geschichte eines Helden, hinein in eine episodenhafte, mit vielen Sprüngen behaftete Form, die mehrere Eben an Zeit und verschiedene Perspektiven ermöglicht. Die Chronologie wird aufgehoben und im Erzählen das nachvollzogen, was das Leben ist: ein Geworfensein in einen Strudel ohne Sinn und Plan, ohne göttliche Fügungen oder Schicksal.

Der Mensch ist mit dem Universum (dem riesigen Himmel) konfrontiert. Er kann entweder, wie die Mehrzahl der Menschen, dahinvegetieren, sich über Geld und Macht freuen, oder aber versuchen, auszubrechen, in der Revolte zu leben. Das ist es, was den Künstler vom Bürger unterscheidet.

 

Mirbeau schrieb den ersten Presseartikel über van Gogh und kaufte zwei heute berühmte Gemälde von ihm.

In Lucien ist unschwer der großartige Maler zu erkennen,

der an seiner Kunst ebenso zerbrach, wie an seinem Leben.

 

Georges und Lucien stammen aus dem selben Dorf.

Als Lucien nach Paris zieht, geht Georges mit. Georges liest und schreibt, Lucien malt. Die "Kühnheit und Heftigkeit"

der Malerei Luciens verstören Georges, ängstigen ihn.

Lucien bezeichnet diese "Übertreibung" als das Wesen der Kunst. Das, was der Maler auf die Leinwand bringt, sei nicht die Nachbildung der Natur, sondern "eine innere Empfindung deiner Seele!"

 

Nach einer schöpferischen Periode verlässt Lucien Paris.

Er sucht die Einsamkeit und zieht sich aufs Land zurück. Kurze Zeit später erwirbt er die Bergspitze, Sinnbild der solitären Stellung des Künstlers.

Georges bleibt zurück, innerlich leer, da er keine eigenen Empfindungen mehr kannte.

 

Bald erhält Georges verzweifelte Briefe Luciens. Dieser stellt sein komplettes Leben als Künstler in frage.

 

"Womöglich vermag das menschliche Hirn die Natur zumindest andeutungsweise zu begreifen, doch sie auszudrücken mit diesem unbeholfenen, schwerfälligen und wankelmütigen Instrument - der Hand -, das geht, wie ich glaube, über die menschlichen Kräfte hinaus."

 

Die "Wüste der Stille" setzt Lucien noch mehr zu als Paris.

Er kommt zurück, leidet wahnsinnig unter dem Eindruck, nicht das malen zu können, was ihn erfüllt.

 

"Meine Hand hat sich geweigert, das zu malen, was ich empfand, was ich im Innern verstand, all die Gefühle, die meine Seele erfüllen, vor diesem firmamentalen Blick und diesem astralischen Mond. Verstehst Du? Oh! Wenn ich ein Beil gehabt hätte, ich schwöre Dir, hätte ich mir die Hand abgehackt, und ich hätte eine diabolische Freude dabei verspürt, sie, diese verdammte Hand, an die Tür meines Ateliers zu nageln, wie ein Spottobjekt!"

 

An Weihnachten 1888 hatte van Gogh sich das Ohr abgeschnitten, am 27. Juli 1890 hat er auf sich geschossen, zwei Tage später starb er.

 

Mirbeau dreht die Schraube noch um eine Umdrehung weiter. Die Katastrophe, in der der Roman endet, dürfte eine symbolische sein - sie ist ein Gipfel an Qualen, geschuldet der Unfähigkeit des Menschen angesichts der Kunst.

 

Der Roman umfasst lediglich 160 Seiten.

Doch er ist ein Tableau, das Kunst und Leben gegenüberstellt und fragt, ob es auch einen Mittelweg geben könnte. 

Der Roman lässt offen, wie es Georges in der Folge ergeht.

Der namenlose Erzähler taucht überhaupt nicht mehr auf.

Auch hier also, mit diesem offenen Ende, geht Mirbeau einen Schritt in Richtung Moderne. Zusammen mit der Vorwegnahme einiger Gedanken des französischen Existenzialismus macht dies seinen Roman zu einem Text, der viel Neues bietet. Und noch heute beeindruckt.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Octave Mirbeau: Diese verdammte Hand

Übersetzt von Eva Scharenberg und mit einem Nachwort von Piere Michel

Weidle Verlag, 2017, 184 Seiten