Toni Morrison - Gott, hilf dem Kind

"Ich habe Angst. Etwas Schlimmes passiert mit mir. Es kommt mir vor,

als würde ich wegschmelzen. Ich kann es nicht erklären, aber ich weiß genau, wann es anfing. Es begann, nachdem er gesagt hatte: "Du bist nicht die Frau, die ich will." 

"Er" ist Booker Starbern, der Freund bzw Liebhaber von Bride, eigentlich Lula Ann, die ohne Vorwarnung von                                                      ihm verlassen wird.

 

Lula Ann hat sich als junge Frau in Bride verwandelt.

Verbunden damit ist die Absage an ihr altes Leben, auch oder vor allem die Loslösung von ihrer Mutter Sweetness.

Jahrelang hatte Lula Ann vergeblich um die Zuwendung

ihrer Mutter gekämpft, sie hat sogar Ohrfeigen in Kauf genommen, nur um von ihr berührt zu werden.

Doch sie wusste, dass Sweetness sich vor ihr geradezu ekelte: Lula Ann war schwarz wie die Nacht.

 

So schwarz, dass ihr Vater die Familie verließ, er machte  Sweetness für einen Fehltritt verantwortlich, denn so ein schwarzes Kind gab es unter seinen Vorfahren nicht.

Auch unter den ihren nicht. So ist Lula Ann für alle eher eine Prüfung Gottes als eine Freude.

 

Vier Erzählerinnen berichten in der Ich-Form im ersten Teil des Buches aus ihren Leben, die alle mit Bride verbunden sind. Das erste Wort gehört Sweetness, die ihren Schrecken schildert und auch ihre Reaktion auf die Hautfarbe ihres Kindes: "Ich musste streng sein, sehr streng. Lula Ann musste lernen, wie man sich benimmt, wie man auf der Hut ist und keinen Ärger macht. Es ist mir egal, wie oft sie ihren Namen ändert. Ihre Farbe ist ein Kreuz, das sie immer zu tragen haben wird. Aber es ist nicht meine Schuld. Ich kann nichts dafür. Ich kann nichts dafür. Ich nicht."

 

Die Strenge führt zu einer extremen Anpassung, doch dagegen wehrt sich Lula Ann, als sie kein Kind mehr ist.

Sie schafft es, ihre Schwärze zu ihrem Kapital zu machen:

sie trägt nur noch weiße Kleidung, arbeitet als Model und hat schließlich eine eigene Kosmetiklinie in einem großen Unternehmen. Sie wohnt in ihrer eigenen Wohnung, fährt einen Jaguar und versucht, nicht allzu viel an die Vergangen-heit zu denken.

 

Ihre einzige Freundin (und Kollegin) ist Brooklyn, auch sie erzählt aus ihrer Sicht von Bride.

Sie ist es, die ihr nach dem Verschwinden von Booker wieder auf die Beine hilft und sie an ihrer Arbeitsstelle vertritt (wohl nicht ganz uneigennützig). Sie ist es auch, die sie nach einem heftigen und brutalen Zusammenstoß mit der soeben aus dem Gefängnis entlassenen Sofia Huxley versorgt.

 

Bride hat auf Sofia gewartet, als diese nach fünfzehn Jahren aus dem Gefängnis entlassen wurde.  In welcher Beziehung die beiden zueinander stehen, ist zuerst nicht klar. Sofia kennt Bride jedenfalls nicht. Erst als diese eine Andeutung macht, wer sie ist, begreift Sofia, wer vor ihr steht.

Und dreht durch.

 

Brides Leben gerät aus den Fugen. Sie versucht, Klarheit zu schaffen und macht sich auf die Suche nach Booker.

Dabei strandet sie bei einem in die Jahre gekommenen Hippie-Pärchen, das sie nach einen Unfall versorgt.

Und wo sie Rain kennen lernt, ein Mädchen, das von dem Ehepaar aufgenommen wurde - bei Regen gefunden, deshalb ihr Name. Sie ist um die zehn, hat Schlimmstes hinter sich, nimmt kein Blatt vor den Mund und ist absolut ehrlich. 

 

Bei dieser kleinen Familie lernt Bride ein Leben kennen,

das sie nie führte. Und ihr wird auch klar, wie wenig sie von Booker weiß. 

Auch der Leser lernt ihn im dritten Teil des Romans erst kennen. Auch er ist ein Gestrandeter, einer der vor der Vergangenheit flieht, der sich von seiner Familie losgesagt hat. Nur seiner Tante Queen traut er noch, bei ihr ist er untergekommen, als er die Stadt und Bride verlassen hatte.

 

In einem verlassenen Dorf, eher einer Ansammlung kleiner Häuser oder Hütten und Wohnwagen, finden sich Booker und Bride durch Queens Eingreifen wieder. 

 

Die persönlichen Geschichten aller Figuren des Buches sind nicht nur unterlegt, sondern bestimmt von dem immer noch virulenten Rassismus in den Vereinigten Staaten.

Lula Ann wurde in den 1990er-Jahren geboren, der Roman spielt also in der Gegenwart, denn sie ist nun Anfang zwanzig. Das muss man sich beim lesen immer wieder vor Augen führen, denn an vielen Stellen fühlt man sich in Zeiten zurückversetzt, die der Vergangenheit anzugehören schienen.

 

Indem Toni Morrison eine schwarze Mutter entwirft, die ihr Kind ablehnt, weil es sehr schwarz ist, spitzt sie das Thema Rassismus extrem zu.

 

Ein einziges Mal im Leben hatte Lula Ann große Macht.

Die hat sie ausgenutzt, um ein Mal gelobt und von der Mutter an der Hand genommen zu werden.

Erst sehr viel später wird ihr klar, was sie damit angerichtet hat und auch, dass es keine Wieder-Gutmachung gibt.

 

 

Das andere große Thema ist Kindesmissbrauch.

Es gibt kein Kind in diesem Roman, das nicht in irgendeiner Art missbraucht wurde. Oder beobachten musste, wie dies anderen Kindern angetan wurde. Von Männern, die alle Nachbarn "sehr nett" fanden, ganz normalen Männern, keinen Monstern. 

 

Indem sie verschiedene Ich-Erzähler mit einem Erzähler,

der von außen auf das Geschehen blickt und von Bride und Booker erzählt, kombiniert, schafft Morrison ein vielfältiges und aus verschiedenen Perspektiven gesehenes Bild, das den Leser auf verschlungenen Pfaden an den Kern der Geschichte heranführt.

 

Den größeren Rahmen erhält der Roman durch eingestreute Überlegungen der Autorin, die sie ihren Figuren ein-schreibt. So beispielsweise Booker, der während seines Studiums zu verstehen beginnt, dass alles, Geschichte, Politik usw., vom Geld bestimmt wird.

"Er vermutete, dass die wirklich erhellenden Antworten auf die Fragen nach den Hintergründen von Sklaverei, Lynchjustiz, Zwangsarbeit, Knebelverträgen bei der Landverpachtung, Rassismus, der gesellschaftlichen Neuordnung nach dem Sezessionskrieg, dem Stereotyp des Jim Crow, der Gefangenenarbeit, der Wanderungsbewegung, der Bürgerrechte und der Schwarzen Revolution alle mit Geld zu tun hatten. Mit vorenthaltenem Geld, gestohlenem Geld, mit Geld als Machtinstrument, als Kriegswaffe. Wo war die Vorlesung über das Phänomen, dass allein die Sklaverei das Land binnen zweier Jahrzehnte aus der Agrikultur ins Industriezeitalter katapultierte? Der Hass und die Gewalt der Weißen waren der Treibstoff, der die Profitmaschine am Laufen hielt. ......."

 

Toni Morrison wäre nicht die große Dichterin die sie ist, würde sie auf solche Passagen verzichten. 

In all ihren Romanen verknüpft sie die persönlichen Geschichten mit der Zeit und dem Land, in dem sie spielen. Und eines ist immer klar: die Zeiten sind mächtig.

 

Nachdem Bride sich vorübergehend in ein Kind zurück entwickelt hatte - das musste sie, um über ihre Vergangen-heit sprechen zu können - winkt ihr vielleicht doch noch

das Glück. Es bleibt jedoch zu befürchten, dass hier ein Gott helfend eingreifen müsste. 

Ob es die Menschen tun, ist fraglich. 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Toni Morrison: Gott, hilf dem Kind

Übersetzt von Thomas Piltz

Rowohlt Verlag, 2017, 203 Seiten

Rowohlt Taschenbuch, 2018, 208 Seiten

(Originalausgabe 2015)