Knut Odegard - Die Zeit ist gekommen

Dieser 2017 erschienene Gedicht-band des Norwegers Knut Odegard (geb. 1945) ist der erste dieses Autors, der ins Deutsche übersetzt wurde - und das, obwohl er als einer der größten Dichter des Landes gilt und bereits in über 40 Sprachen übersetzt wurde. Nun liegt also zur Buchmesse mit dem diesjährigen Gastland Norwegen die Sammlung "Die Zeit ist                                                                           gekommen" im Elif Verlag vor.

 

Es sind starke, eindrückliche, beeindruckende und teilweise auch niederschmetternde Gedichte, die vor keinem Thema zurückschrecken. Sie sind mutig, melodisch, rühren ans Innerste, sprechen Seele und Geist an, spannen sich zwischen die Höhe des Sternenhimmels und die Tiefen eines Grabes, erstrecken sich von der Kindheit bis ins hohe Alter - beide Lebensphasen bringen neben fröhlichem Lachen tiefste Verzweiflung. Die Gedichte erzählen von Menschen, die in schlimme Situationen geraten, sie tun dies mit einer solchen Hinwendung zum Menschsein, dass der Trost dem Grauen eingeschrieben ist. Die Gedichte sind sehr klar und direkt, aber nicht voyeuristisch. Sie sprechen aus, sie denunzieren nicht. Sie sind ehrlich, aufrichtig, kraftvoll.

 

Die Sammlung ist in vier Teile gegliedert. Der erste spricht von einzelnen Personen wie "Das Kind", "Mutter", "Großtante", oder von Zeiten: "Herbstabend", "Frostzeit".

Sie thematisieren Kinderängste, erzählen von Schulkameraden, die ein Kind anpinkeln, dessen Vater Deutscher ist, erzählen von der "Deutschenhure Therese",

die nun im Keller sitzt und strickt - bis sie das Kellerfenster zerschlägt und "mit den Vögeln" davonfliegt.

Oder von der Großtante Beretanna, die im Dachgeschoss lebt und einen Schal für ihren Sohn strickt, damit sich dieser in Russland nicht erkältet - da ist der Krieg längst vorbei,

der Sohn "ruht wohl in russischer Erde".

 

Die beiden Beispiele zeigen, dass Odegard die Menschen,

von denen er spricht, in ihre Zeit bettet, ihre Schmerzen erwachsen aus dieser.

Sie erscheint im allerersten Gedicht als ein Wesen, das die Bühne betritt, "der ewige Clown hält ein schreiendes neugeborenes Kind" - der Clown, das ist die Zeit selbst,

die den Menschen etwas vorführt, vorgaukelt, sie verführt, hinters Licht führt, die sich manifestiert im Älterwerden,

in Verlusten, aber auch Gewinnen.

 

Das Thema Alter dominiert den dritten Teil des Gedicht-bandes.

"Wir begannen gestern vom Tod zu sprechen.

Leicht betroffen. Schoben es sofort wieder weg."

Ein altes Ehepaar, es wird einsamer um sie, viele Freunde sind "fort". Aber:

"Unsere Liebe ist doch mehr

als Wind und Staub und Reisig im Wind, sage ich

idiotisch,

und du nimmst meine Hand. Jetzt,

da die Nacht über uns hereinbricht."

 

Der zweite Teil wendet sich an Amtsträger bzw erzählt von Menschen, die Opfer eines solchen (dazu zähle ich jetzt auch Ärzte) wurden.

Ganz tief erschütternd ist das Gedicht "Der Kirchendiener", das den Missbrauch eines Kindes schildert.

Am Ende ist es der Junge, der sich abgrundtief schämt, nicht der Mann der Kirche, der Seelenhirte. 

 

Ein solches Gedicht ist außerordentlich mutig.

Es mutet den Lesern sehr viel zu, es könnte der Junge unter diesen Lesern sein - vielleicht könnte das Gedicht ihn ein wenig erleichtern?

 

Odegards Gedichte schweben nicht im Rosengarten, besingen nicht den Sonnenuntergang.

Der vierte Teil stellt eine junge Frau, die bei einer Vergewaltigung schwanger wird und sich mit ihren "vater-losen Sohn" auf den Weg heraus aus Aleppo nach Europa begibt, in den Mittelpunkt - und dort nicht ankommt.

Das Mittelmeer ist ein großes Grab.

 

Das längste Poem nimmt ein Eddagedicht auf und spinnt es fort, überträgt es in die heutige Zeit.

Dieses Gedicht ist ein dystopischer Alptraum, in dem den Menschen alles genommen wird. 

Warum ein solches Gedicht lesen? Es ist wie die alten Mythen selbst: sie sind keine Abbildung der Wirklichkeit,

sie zeigen eine Struktur. Häufig stellen sie den Untergang

der Welt dar, dieser ist (im Mythos) Voraussetzung für die Erneuerung. 

Das Gedicht trägt den Titel "Nieselregen: Sie sieht und träumt". Sie sieht nicht die Wirklichkeit, sie ist eingetaucht in eine mystische Geschichte, strukturiert von Hunger, Angst, Gier und Egoismus. Sie muss nicht Wirklichkeit werden.

Deshalb soll ein solches Gedicht gelesen werden.

 

Der letzte Text ist eine Erweiterung des ersten:

"Die Zeit ist um" überschrieben. Er erzählt die alte Sage des heiligen Ephräm. Die letzten Worte:

"Kyrie Eleison. Kyrie Eleison." Herr, erbarme dich!

 

 

 

Ase Birkenheier, wie Odegard aus Molde in Norwegen kommend, hat die Gedichte sehr kenntnisreich übersetzt.

Ohne Schnörkel und die Lesenden direkt ansprechend.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Knut Odegard: Die Zeit ist gekommen

Übersetzt von Ase Birkenheier

Elif Verlag, 2019, 87 Seiten

(Originalausgabe 2017)