Kathy Page - All unsere Jahre

Weil ihn ein Unfall auf der Strecke seiner Tram ausnahmsweise einen anderen Weg zum Eingang der Biblio-thek nehmen lässt, trifft Harry auf die eben heraustretende Evelyn.

Der pure Zufall ist es also, der zu dieser Begegnung in London im Jahr 1939 führt. "War es sein Blick, der sie am Fuße der Stufen eines ihrer Bücher verlieren ließ, die schiere Intensität der Anziehung, die er verspürte, oder stolperte sie einfach nur über das gröbere Mauerwerk dort unten?"

 

Was auch immer, dies ist der Auftakt einer lebenslangen Beziehung. Harrys Blick wird siebzig Jahre lang auf Evelyn gerichtet sein, die Anziehung wird nie nachlassen.

 

Der Leser lernt Harry bei dessen Geburt kennen.

"Männlich, unauffällig" schreibt die Hebamme in ihren Bericht. Unauffällig bleibt er, ist ein fleißiges Kind, das es dank eines Stipendiums auf die höhere Schule schafft.

Zur Zeit der Begegnung mit Evelyn ist er Laborassistent, studieren wollte er nicht.

Evelyn arbeitet in einer Anwaltskanzlei, "Empfang und Korrespondenz". 

 

Ihr erstes Thema ist ein Gespräch über "Rebecca", einem

damals sehr beliebten Roman um eine junge Frau, die in höhere Kreise aufsteigt - Harry ist ein großer Liebhaber der Poesie, ein Lehrer hatte hierfür den Grundstein gelegt.

Bei jeder Gelegenheit liest Harry Gedichte, kennt sehr viele auswendig, er versucht auch, selbst welche zu schreiben.

 

Doch die Liebe zur Literatur muss er hinten anstellen.

Bereits im September 1939 wird Harry eingezogen, die Verlobung mit Evelyn findet Minuten vor der Abfahrt auf dem Bahnsteig statt. 

Die ersten Jahre lassen den beiden wenig Zeit füreinander, denn Harry bleibt bis zum Kriegsende bei der Armee.

1940 kommt die Tochter Lillian zur Welt, ihr folgt fünf Jahre später Valerie. Als Lillian schon studiert, kommt Ende der 50er Jahre noch Louise hinzu, die ihren Eltern viele Sorgen bereiten wird.

 

Die Mädchen beschäftigen Evelyn nebst dem Haushalt und der Sorge um ihre eigenen Eltern. Ihr Vater ist Alkoholiker und leidet an Tuberkulose, die Mutter himmelt ihn an und verzichtet vollkommen auf ein eigenes Leben.

 

Das versetzt Evelyn in eine Art Dauer-Rage. Sie ist eine entschlossene Person, die ihre Ansichten sehr hoch schätzt (und kaum einmal andere gelten lässt), streng zu anderen sein kann, sich einigelt, sobald sie nicht die Zustimmung erfährt, die sie erwartet.

 

Harry bemüht sich indessen, alle ihre Wünsche zu erfüllen.

Er arbeitet, bildet sich fort, erklimmt die Karriereleiter, baut ein schönes großes und modernes Haus, verbringt Zeit mit den Kindern - er hat nie etwas von der intensiven Liebe zu Evelyn verloren, die er von Anfang an für sie empfand.

 

Nach siebzig Ehejahren, also mit über neunzig, resümiert Harry:

"Sie konnte Rüpel und Tyrannen nicht ausstehen; ebenso wenig Selbstbeobachtung, Kompromisse, Schwäche, Vagheit: Er hatte begriffen, dass ihr diese Dinge Angst machten, und außerdem vergeudete man in ihren Augen damit Zeit und Leben. Sie glaubte an Essen, Lachen, Spazierengehen, frische Luft. Evelyn würde nie etwas tun, was sie nicht wollte; dazu war sie nicht in der Lage."

 

Also ist Harry derjenige, der nachgibt. Sogar die drei Mädchen ermuntern ihn dazu, der Mutter die Stirn zu bieten. Doch er weiß, dass es Dinge gibt, die sie nicht kann und akzeptiert, dass er sie tun muss. Einlenken zum Beispiel.

 

 

Kathy Page erzählt chronologisch. Sie gliedert die Lebensge-schichten in drei Teile: "Fast wie Musik" erzählt die Zeit bis zur Rückkehr Harrys aus dem Krieg, (d.h. bis zum Beginn des Ehealltags), "Blau" beschreibt die Ehe mit ihren Höhen und Tiefen, endend mit einer Mittelmeer-Kreuzfahrt, bei der Harry gerne zum Gedichte schreiben zurückkehren würde, doch diese Quelle ist versiegt. "Hotel Paris", der dritte Teil, geht offen, ehrlich und manchmal schonungslos auf das Alter ein. Dieses stimmt nicht zwangsläufig milde, manchmal verstärkt es vor allem die schlechten Eigenschaften, die ein Mensch ein Leben lang pflegte. 

 

Die beiden verbindet der Wunsch nach einem besseren Leben, das ist ihnen in materieller Hinsicht gelungen.

Sie können sich Auslandsreisen leisten, alle drei Töchter studierten. 

Doch es bleibt ein Rest, etwas, das nicht ausgesprochen wird, etwas, das manchmal verbindet, manchmal trennt - dieses Schwebende, dieser Raum, den Kathy Page lässt, den der Leser füllen kann, macht diesen Eheroman wirklich spannend. 

 

Es werden nicht die Ereignisse jeden Jahres ausgeführt, Page fasst die Entwicklungslinien gut zusammen, konzentriert sich auf die Momente, in denen sich Wesentliches zeigt.

Ihr Herz gehört ein wenig mehr dem zurückhaltenden Harry, der sein Leben darauf verwandt hat, die immer mehr (irgendwann zu sehr) dem Pragmatismus zugeneigte Evelyn glücklich zu machen. 

 

Bis zum Schluss träumt er davon, eine zärtliche Geste von ihr geschenkt zu bekommen:

"Gegen die Schmerzen in seiner Hüfte ankämpfend, drückte er sich halb aus seinem Sessel, sodass er sie erreichen konnte. Ihre Hand in seiner, halb so groß. Evelyns Hand. Er spürte ihren Widerstand, zog sie aber trotzdem zu sich heran.

Er strich mit ihrer Handfläche über seine frisch rasierte Wange und sagte inständig: `Fühl nur´." 

 

Auf die Frage an sich selbst: "Wer also war er?" antwortet Harry: "Mehr als alles andere war er ein Ehemann."

"Und Evelyn, hatte sie sich verändert? Sie war noch inten-siver sie selbst geworden."

Das ist nicht das Fazit, das man von einer Ehe, die nach traditionellen Rollen funktioniert, erwartet hätte... 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Kathy Page: All unsere Jahre

Übersetzt von Beatrice Faßbender

Verlag Klaus Wagenbach, 2019, 304 Seiten

(Originalausgabe 2018)