Nicola Pugliese - Malacqua

Vier Tage Regen über Neapel in Erwartung, dass etwas Außergewöhnliches geschieht

Der lange Untertitel ist die kürzest mögliche Zusammenfassung des Romans aus dem Jahr 1977.

In Italien ist er ein Kultbuch, nun liegt er erstmals in deutscher Über-setzung vor.  Nicola Pugliese (1944-2012) beschreibt ein Szenario, das gleichermaßen von Untergang und Hoffnung erfüllt ist, in einer Sprache, die strömt wie der Regen selbst. 

 

Vier Tage, erzählt in vier Kapiteln. Diesen vorausgehend "Einleitung und Prolog", in welchem der Journalist Andreoli Carlo eingeführt wird. Er ist fünfunddreißig, sitzt im Restaurant, geht nach dem Essen hinaus in den Regen, betrachtet das Castel dell´Ovo und stimmt ein auf die Geschichte, die von einem Erzähler, der sich immer wieder einmischt, die Figur oder den Leser anspricht, berichtet wird.

 

Gleich am ersten Regentag kommt es zu Stromausfällen, Erdrutschen und zwei tragischen Begebenheiten: ein Haus stürzt ein, in ihm kommt eine ganze Familie zu Tode.

Ein Krater öffnet sich, wo einmal eine Straße war, eine junge und eine alte Frau finden darin den Tod.

 

Mit einer Mischung aus Verzweiflung, Trotz und bitterem Humor reagiert ein Telefonist, der Notrufe entgegennimmt:

"... und Scheiße, diese Stadt ist wirklich aus Pappe, ist es möglich, dass nur ein paar Stunden Regen?, tja, möglich, natürlich ist es möglich, was willst du machen?, die vom Wetterdienst am Flughafen sollten Schilder aufstellen: morgen regnet es. Neapolitaner, übersiedelt nach Rom!"

 

Die ineinanderfließenden Sätze, die Atemlosigkeit und der Fatalismus des Zitats sind beispielhaft für den ganzen Roman. 

In das Strömen des Wassers eingeflochten sind viele Personen, ihre Schicksale und Gedanken. 

Es sind einfache Polizisten, Sekretärinnen, Stadträte, ein Bürgermeister, ein "Dezernent für Öffentliche Arbeiten",

junge Mädchen, die der Bewachung ihrer Mütter entwischen und sich heimlich mit ihrem Freund treffen, ein Pförtner, Luigi, Vater der verschütteten Rosaria, und weitere Figuren, die während der Regentage grundsätzliche Überlegungen zu ihrem ganzen Leben anstellen.

 

Im vierten Teil sind die Gedanken der vierundzwanzig-jährigen Cuomo Adriana, die an der Haltestelle auf den Bus wartet, dem Nachsinnen über das Leben Andreoli Carlos beim Rasieren, gegenübergestellt. 

Beide werden vom Regen dazu veranlasst, über Veränder-ungen nachzudenken, denn eines ist gewiss: der Regen dringt nicht nur in die Knochen, er dringt in die Seele.

 

Doch nicht nur diese persönlichen Fragen sind Themen des Romans, er spielt auch mit dem Aberglauben, der im Süden noch immer allgegenwärtig ist.

So wird eine Puppe als Quelle des Unglücks identifiziert, womöglich sogar als "Zeichen des Todes".

Die Stadtoberen mit ihrem Gefolge sind sich nicht zu schade, aus einer Puppe eine Unglücksgöttin zu machen.

 

Märchenhafte Hoffnung geben Münzen, die Mädchen mit Musik beschenken und dazu führen, dass der Musikunter-richt in allen Schulen verstärkt und Neapel wieder auf die Höhe vergangener Zeiten geführt werden soll: zur

"Vorherrschaft auf dem Gebiet der Weltmusik".

Es sind aber auch gefälschte Münzen im Umlauf...

 

Und es fehlt auch die Kritik an der Politik nicht: Savastano Aniello, Vater der drei Kinder, Vorstand der fünfköpfigen Familie, die beim Einsturz des Hauses ums Leben kam, hatte jahrelang bei Behörden für eine andere Wohnung gekämpft. 

"Wie lange ist es her, dass Savastano Aniello um die Zuteilung einer anständigen und sicheren Unterkunft angesucht hatte?, seit wie vielen Jahren füllte er Formulare des Autonomen Instituts für den sozialen Wohnungsbau aus, um diese Zuweisung zu bekommen?, an wie viele Türen hatte er geklopft, Tag für Tag?"

 

Allen Themen eingeschrieben ist jedoch durchgängig jene Erwartung, die der Untertitel des Romans ankündigt.

Ausnahmslos alle befinden sich in einer Wartehaltung. Warten, dass etwas Außergewöhnliches geschieht.

Die "desolate Gleichförmigkeit"" des Regens reflektiert die Gleichförmigkeit der Tage, des Lebens, des Auf-den-Tod-Zugehens. 

Aber weggehen? Wäre das eine Lösung? Wohin?

Die Wurzeln kappen?

 

"...die fröhliche Fiktion einer gemeinsamen Sache hatte sich in die brutale Feststellung der Einsamkeit verwandelt.

Das blieb von dieser einzigartigen Stadt, das allein, und der Schatten einer ausgebleichten Vergangenheit und die Rhetorik, die behauptete, Poesie zu sein, und nichts, nichts und welche andere Stadt?, welche andere Stadt hätte, auch nur einen Tag, das Leben der Gassen und der Transvestiten und der Zigaretten vom Schwarzmarkt?..."

 

Aus einer Art schwebendem Nichts blickt Andreoli Carlo während seiner Rasur zurück auf sein Leben und begreift plötzlich, "was für ein Narr" er war. 

Ein Narr ist einer, der auf Veränderung wartet?

 

 

 

Der Roman lässt viele Themen, Gedanken, Figuren, Ängste, Hoffnungen und Szenarien zusammenfließen.

Wie der Wasserstand ansteigt, so bauen sie sich auf, führen in eine Welt, die manchmal bekannt, manchmal vollkommen fremd ist, nehmen den Leser mit oder lassen ihn erstaunt dastehen und rätseln. 

Das Leben des Menschen ist uferlos und vielfarbig wie die Tönung des Wassers - auch wenn es nach außen hin eintönig und gleichförmig wirkt.

"Malacqua" ist in diesem Geist geschrieben.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Nicola Pugliese: Malacqua - Vier Tage Regen über Neapel in Erwartung, dass etwas Außergewöhnliches geschieht

Übersetzt von Barbara Pumhösel

Launenweber Verlag, 2019, 232 Seiten

(Originalausgabe 1977)