Peter Richter - 89/90

Peter Richter wird am 8. Juli 1973 in Dresden geboren. Er erlebt das Ende der DDR als Sechzehnjähriger, als einer, der mittendrin ist, mitmischt, sich in keinster Weise raus hält. Er agiert und schaut sehr genau hin, sammelt Material und macht daraus später einen Roman, der sich aus dem Abstand von 25 Jahren mit der Wendezeit beschäftigt. 

 

In seiner Vorbemerkung weist Richter darauf hin, dass "die Charaktere in dieser Geschichte reine Fiktion" seien. 

Er nennt die Menschen aus seinem persönlichen Umfeld nicht mit vollen Namen, sein bester Freund ist S., die Freundin L., es spielen mit A., W. und so weiter.

Im Epilog berichtet er dann noch, was aus den einzelnen Personen geworden ist.

Zeitgeschichtliche Figuren wie Helmut Kohl und andere Politiker erscheinen natürlich unverschleiert.

 

Da Richter seine Geschichte tagebuchartig erzählt, in kleinen Abschnitten mitteilt, was er und seine Freunde tagsüber oder in der Nacht gemacht haben, fällt es schwer, das Buch als einen Roman zu lesen.

Es liest sich wie ein Bericht, weniger wie eine Geschichte.

Er erzählt chronologisch Tag für Tag sein Leben als Jugendlicher.

 

Man ging nachts ins Freibad, feierte Feten (nicht Partys), war auf der Suche nach coolen Schuhen und der richtig coolen Musik, balzte und versuchte die Aufmerksamkeit der schönsten Mädchen zu erregen, rauchte viel zu jung viel zu viel, trank ebenfalls zu viel Bier - der Sprachgebrauch ist der der 80er Jahre, hier gibt es keinen Unterschied zur Wortwahl westlicher Jugendlicher.

Was für Leser, die nicht in der DDR groß geworden sind, ziemlich unverständlich ist, sind die vielen Abkürzungen, die das Leben dort prägten. Die FDJ  kennt man, auch die NVA, aber die FDJ-GOL oder die POS, die EOS, den BFC, die SGD?

Zum Glück erklärt Richter diese Begriffe nicht im Text, sondern in Fußnoten. Hier finden sich auch einige Hintergrundinformationen zeitgeschichtlicher Art. 

 

Richters Buch verändert den Blick auf die sogenannte "Friedliche Revolution", wie sie in die Geschichtsbücher eingegangen ist. In Leipzig fanden die Veranstaltungen in der Nikolaikirche statt, die Montagsdemonstrationen nahmen dort ihren Anfang - in Dresden bildeten sich im Sommer 89 zwei Lager, die bald erbarmungslos aufeinander einprügeln werden: die Skinheads und die Linken. 

In jenem Sommer wird die Stadt immer leerer, weil viele Menschen über Tschechien in den Westen ausreisen.

Ab dem 30.09.89 rollen Züge aus Prag durch Dresden in die BRD, in der Nacht vom 4. auf den 5. Oktober wird der Dresdner Hauptbahnhof  "zerlegt."

 

Natürlich gibt es auch in Dresden Demonstrationen, sie sind unterwandert von der Stasi, von rechten Gruppen und am Rand kämpfen verfeindete politische Lager um die Vorherrschaft in Stadtgebieten, in einzelnen Straßenzügen.

 

"In Dresden herrschte Krieg", so Peter Richter in einem Interview. Als junger Mensch musste man sich entscheiden, auf welcher Seite man mitmacht, ein "normal" gab es nicht mehr. Im Westen bekam man davon sehr wenig mit.

 

"Wir nahmen Anlauf, wir sprangen gegen die Mauer, wir schmissen das rechte Bein hoch, wir fanden Halt an der Oberkante, und wir hatten die Hosen voll vor Angst, als wir die Gewehrläufe sahen. Ich schaute dem Älteren der beiden Gebrüder A. ins Gesicht, er in Uniform, und was ich sah, war ebenfalls Angst. Und dann, irgendwie, auch Erleichterung.

Ach, ihr seid´s."

 

Alte Freunde stehen plötzlich auf der anderen Seite, alle nutzen die im Wehrerziehungslager erworbenen Kenntnisse, Kampfeinheiten werden gebildet.

Baseballschläger werden zum Ausrüstungsgegenstand Nummer eins, und bald hat sich die Polizei weitgehend zurückgezogen.

 

"Die Rechten hatten irgendwann begonnen, die Dinger zu tragen wie ein Accessoire ... der Baseballschläger war gewissermaßen ihr Rutenbündel, Hoheitszeichen ... Mittel der Durchsetzung von Ruhe und Ordnung. Polizei gab es nicht mehr. Gab es natürlich schon noch, tat aber nichts. Schon gar nichts gegen die Leute mit Baseballschlägern. ... Das Gewaltmonopol des Staates war auf jeden Einzelnen übergegangen. Es lag jetzt in unserer Hand. Und solange das in unserer Hand lag, theoretisch, fanden wir das auch ganz gut so. Wenn es uns entwunden wurde oder es uns am Hinterkopf traf, dann sah das natürlich anders aus. ...

Wir hatten jahrelang das große A der Anarchie auf Schulbänke und Lederjacken gemalt. Jetzt hatten wir, ganz praktisch, was wir immer wollten."

 

Es entwickeln sich no-go-areas, es entwickelt sich auch der unbedingte Drang zur Vereinigung mit dem Westen.

Von einer Veränderung der DDR und Beibehaltung eines souveränen Staates ist nicht mehr die Rede.

Selbst enge Freunde Richters, die sehr politisch und freiheitskämpferisch motiviert waren, erliegen den Verlockungen des Lebensstandarts der BRD.

Und wandern ab.

 

Auf fast 30 Seiten im 3.Teil des Buches beschreibt Richter ganz konkret an einzelnen Vorfällen den Kriegszustand der Stadt Dresden, was alles passierte, passieren konnte, in einer Zeit, in der es praktisch keine Staatsmacht mehr gab. In der mehrere Welten parallel nebeneinander existierten, denn es gab auch dort Menschen, die von diesen Kämpfen nichts mitbekamen. 

 

Die rechte Szene konnte sich schnell etablieren, auch Dank dem Import von Führungskräften aus dem Westen, die das Vakuum im Osten zu nutzen wussten.

So kam es bei der 2. Rede, die Kohl in Dresden hielt (Ende September 90) schon während der Rede zur Jagd von Nazis auf "Rote", und nicht erst danach, wie beim 1. Besuch Kohls im Dezember 89.

 

Richters Buch ist mehr als ein politischer Rückblick.

Ich bin hier nicht auf all das eingegangen, was sonst noch Thema ist: Schule, Eltern, Freundinnen, Berufswahl, Pläne, eine Band zu gründen (überhaupt war die Musik extrem wichtig, auch oder vor allem als Abgrenzungsmerkmal - man könnte einen Soundtrack erstellen, denn Richter nennt Bands und Titel, die diese Zeit begleiteten).

All das, was einen Menschen von sechzehn Jahren beschäftigt. Um die verschiedenen Positionen zu beleuchten, hat er sich eine linientreue Freundin, die schließlich in die SU auswandert, erschrieben, dann eine weitere, die esoterisch angehaucht ist. Er hat den ehemals besten Freund S. zum Besitzer eines Techno-Clubs in Berlin gemacht, trifft er sich heute mit ihm, reden sie von früher, wie Veteranen.

 

"Wir hören dann noch einmal die alten Platten und Kassetten, sogar die von Kaltfront, und wir reden darüber, was aus diesem und jenem so geworden ist. Oder von den beiden Lutschern aus Jena, wie S. die nannte, die Nazis geworden waren und einen Haufen Leute erschossen hatten und dann sich selber, die hätten ja zum Beispiel auch so werden können wie wir. Und was für eine sagenhafte Band wir vielleicht noch geworden wären, wenn uns solche Kollegen die Ruhe dafür gelassen hätten, wenn es damals generell ein bisschen langweiliger gewesen wäre..."

 

Dieser autobiographische Roman erweitert die Sicht auf Ereignisse, die noch nicht lange zurück liegen, von vielen aber gerne vergessen werden. Er zeigt auch ganz klar auf, dass Gruppierungen, die heute agieren und vor Gericht stehen, ihre Wurzeln in der Wendezeit mit ihren Unsicherheiten haben. Und keineswegs ein DDR-Phänomen sind.

 

 

 

 

 

 

Peter Richter: 89/90

Luchterhand Literaturverlag, 2015, 416 Seiten

btb-Taschenbücher, 2017, 416 Seiten