Marilynne Robinson - Lila

"Doll war wie die einsamste Frau auf der Welt, und sie war das einsamste Kind, und da saßen sie nun, sie beide, und hielten einander im Regen warm."

Doll, das ist die Frau, die das Kind Lila einfach mitnimmt. Lila ist vier oder fünf, ein mickriges Kind, um das sich keiner wirklich kümmert, das sich unter dem Tisch einer Hütte versteckt, da ist es einigermaßen sicher.

 

Doll, eine Streunerin, nimmt Lila in ihre Arme, umwickelt sie mit ihrem Schal und geht weg. Für kurze Zeit finden sie Schutz bei einer alten, alleine in einer Waldhütte lebenden Frau. Dort wird Lila so weit aufgepäppelt, dass sie eine Chance hat, das Leben zusammen mit Doll zu bewältigen.

 

Kaum, dass es Lila ein bisschen besser geht, zieht Doll mit ihr weiter. Sie schließen sich Doane und Marcelle an, die mit ihren Kindern und einer handvoll weiteren Heimatlosen eine Gruppe bilden. 

Sie alle gehören zu dem Heer der Wanderarbeiter, der Tagelöhner, die in der Zeit der Großen Depression der zwanziger und dreißiger Jahre in den USA umherziehen, auf der Suche nach einem Auskommen.

Die nichts haben als ihre Hände und ihren Willen, nicht aufzugeben.

 

Doll kann mit Lila sowieso nicht lange an einem Ort bleiben, die Angst, gefunden zu werden, verlässt sie nie - schließlich hat sie das Kind gestohlen. Aber sie sorgt dafür, dass Lila lesen und schreiben lernt, fast ein Jahr lang geht sie zur Schule.

 

Als Lila schließlich auf sich alleine gestellt ist, landet sie in

St. Louis in einem Bordell. Sie kann fliehen, zieht weiter, findet Unterschlupf in einer Hütte in der Nähe der Kleinstadt Gilead, irgendwo in Iowa. Dort wagt sich die ungetaufte und ungläubige Frau in die Kirche, wo sie dem Reverend John Ames begegnet, einem alten Mann, der schon lange Witwer ist und alleine lebt.

 

Zwischen diesen beiden Menschen, der jungen Frau, die so etwas wie ein Zuhause gar nicht kennt und dem alten Mann der Kirche, der sein ganzes Leben im selben Haus verbracht hat, dessen Familie eine eigene Begräbnisstätte auf dem örtlichen Friedhof hat, entspinnt sich eine zarte Liebesgeschichte, die sehr anrührend ist. Nicht sentimental.

 

Lila ist nicht gläubig, nicht getauft, hat immer Abstand zur Kirche gehalten. Ihre Lese- und Schreibübungen führt sie jedoch mit einer Bibel durch. Gerade liest sie das Buch Ezechiel, nur mit Mühe versteht sie, wovon die Rede ist.

Sie ist nicht gebildet, hat einen geringen Wortschatz, was sie selbst stört, denn sie würde sich gerne besser ausdrücken und mitteilen können, aber ihr fehlen die Worte dafür. Trotzdem verblüfft sie den Reverend oft mit ihren Fragen. Sie zielen immer in die Tiefe, sind unverstellt von angelernten Denkweisen, kommen immer direkt aus Lilas Lebenserfahrung.

Und er gibt sich große Mühe, Antworten auf ihre Fragen zu finden, was ihn selbst seinen Glauben neu erfahren lässt.

 

Im gesamten Roman werden die Erlebnisse Lilas aus ihrer Kindheit, ihren Wanderjahren, ihre innige Verbundenheit mit Doll, die Bedeutung eines Messers, das sie von ihr erbt, ihr Ankommen in Gilead, die Begegnung und das Zusammenleben mit John und die Gedanken, die Lila während ihrer Schwangerschaft hat, übereinander geblendet, ineinander verwoben.

Das macht die Geschichte überaus lebendig. Es ist ein Ineinandergleiten von Erinnerungen, Wünschen, Träumen, Gesprächen, Begegnungen, ein ständiges Suchen und Versuchen anzukommen, die Einsamkeit zu durchbrechen. Und gleichzeitig verkörpert diese Erzählweise das Unterwegssein der Menschen.  

 

Weder Lila noch John sind geübt darin, ihre Zuneigung zu einem Partner auszudrücken. Ihre Liebeserklärungen sind sehr zurückhaltend, fast spröde, aber ehrlich.

 

"Sie waren ein Jahr verheiratet, nein, anderthalb Jahre fast, und er war immer noch genauso einsam wie nur je, und das machte ihr Angst. Also sagte sie, "Nett von dir zu glauben, irgendein Kerl irgendwo könnte sich die Mühe machen, mich zu suchen. Pech, Reverend. Du hast mich ganz für dich. Wenn du das willst." Er sagte, "Das will ich offenbar zu sehr, um glauben zu können, dass es so ist." Sie sagte, "Geht mir ziemlich genauso." Er nickte. "Das ist gut zu wissen."

"Ich hätt nie gedacht, dass ich mal in so einem Haus wohne, das ist mal sicher. Ich meine ein Haus, wo ich die Ehefrau bin und jemand daran liegt, ob ich bleib oder geh."

 

Lila bringt einen Sohn zur Welt, ein schwaches Bübchen, dem nicht viele Chancen eingeräumt werden. Doch er entwickelt sich gut, wird eine große Freude seiner Eltern.

Doch bei allem Glück, das Lila hat, wird sie nie ganz sesshaft- "Zwei-, dreimal hatte sie sogar gedacht, sie würde ihn stehlen, ihn in die Wälder davontragen oder die Landstraße hinab, damit sie ihn für sich hätte und ihm das andere Leben zeigen könnte."

Dieses andere Leben bleibt Teil ihrer Person.


 

Der Ton dieses Romans kommt dem des Erstlings Robinsons, "Haus ohne Halt", recht nahe. Während die Verlorenheit dort in unendlich tiefen Wassermetaphern gezeichnet wird, erscheint sie in "Lila" eher in staubigen oder kalten Landschaftsbildern.

"Lila" endet voller Hoffnung - ein Rest an Zweifel bleibt.


 

 

 

 

 

 

Marilynne Robinson: Lila

Übersetzt von Uda Strätling

S. Fischer Verlag, 2015, 288 Seiten

(Originalausgabe 2014)