Nan Shepherd - Der lebende Berg

Zwölf Stunden hat der Tag, ebenso viele die Nacht. Zwölf Monate das Jahr - vielleicht hat Nan Shepherd die Anzahl der Kapitel an dieser Zahl orientiert. Passen würde es zu diesem Buch, das so tief in das Leben des Bergmassivs der Cairngorms im Nordosten Schottlands eintaucht,

wie in die eigene Seele, d.h. die der Betrachterin, die manchmal der Zeit enthoben wird.

 

Shepherd kam 1893 in der Nähe von Aberdeen zur Welt,

dort lebte sie bis zu ihrem Tod im Jahr 1981. Sie unterrichtete einundvierzig Jahre lang Englisch an der High School für Mädchen, unternahm ausgedehnte Reisen in alle Welt -

vor allem aber wanderte sie tausende Kilometer durch die Cairngorms. 

Zwischen 1928 und 1933 veröffentlichte sie drei Romane, gefolgt von einem Gedichtband 1934 - und dann nichts mehr. "Der lebende Berg" entstand in den letzten Kriegsjahren, verschwand in der Schublade, und erschien erst 1977 bei der Aberdeen University Press.

Das Buch ist eine der besten Landschaftsstudien des

2o. Jahrhunderts und wartet darauf, wiederentdeckt zu werden. Schön, dass es nun auch auf Deutsch vorliegt, in einer sehr schönen Ausgabe, die neben dem eigentlichen Text feine Illustrationen und eine erhellende Einführung enthält.

 

An eine Freundin schrieb Shepherd, dass "gute Literatur"

die "gewöhnliche Welt magisch" werden lässt, sie "lässt sie widerhallen/erleuchtet sie."

In diesem Sinne hat Shepherd eine sehr gute Literatur geschaffen, denn sie begibt sich mit allen Sinnen in die Berg-Welt, nimmt auf wie ein Schwamm, überlässt sich völlig den Eindrücken, reflektiert das Gesehene, Gehörte, Gerochene und Gefühlte, vermittelt die "Innerlichkeit" des durch ihren Geist hindurch Gegangene - und blickt mit stets neuen Augen auf die Welt. Und mit ihr ihre Leser.

 

Für gewöhnlich sind Bergsteiger auf den Gipfel fixiert.

Erfolg oder Misserfolg hängt davon ab, ob dieser erreicht wird. In jungen Jahren ist auch Shepherd vom "Gipfelfieber" befallen, wie sie schreibt, doch dies weicht bald einer Faszination für das Plateau. Sie erkennt, dass die einzelnen Gipfel "nicht mehr als Wirbel auf der Plateauoberfläche" sind, alle Gipfel zusammen bilden einen einzigen Berg,

der neben Gipfeln aus Spalten und Senken besteht.

 

Dieser Schritt hin zu einer ganzheitlichen Sichtweise führt sie zu einer doppelten Betrachtung: sie interessiert sich brennend für all die kleinen und kleinsten Erscheinungen, für all das, an dem der Gipfelstürmer vorbeigeht, sie schaut in die Tiefe der Schluchten, beschreibt die Wege dorthin und die Vegetation dort unten, die Klarheit des Wassers - und setzt diese kleinen Steinchen in Beziehung zum Ganzen.

Zur dem, was dieses Massiv zu einer eigenen Welt macht.

Wie Goethe und Humboldt sieht Shepherd "das Besondere

im Allgemeinen, das Allgemeine im Besonderen."

 

Der Gedanke, dass alles mit allem verbunden ist, vor allem, dass auch der Mensch Teil des Ganzen ist, führt sie fort auf dem Pfad der Betrachtung zu tiefen philosophischen Überlegungen. Sie schaut "in" die Berge, nicht "auf" die Berge, und in den Menschen hinein.

 

Jedes der zwölf Kapitel ist einem bestimmten Phänomen gewidmet. Auf "Das Plateau-Die Schluchten-Die Gruppe" folgen "Wasser-Frost und Schnee-Luft und Licht".

Die Kapitel "Die Pflanzen-Vögel, Vierfüßer, Insekten-

Der Mensch" tragen den Vorsatz "Leben:".

Den Abschluss bilden "Schlaf-Die Sinne-Sein."

 

Shepherd bewahrt beim Schreiben eine große Disziplin. 

So schafft sie eine Ordnung, die den Blick konzentriert und den Leser nicht mit einem Füllhorn an verschiedenen  Eindrücken überschüttet.

Gleichzeitig stehen aber alle Teile des Buches in innerer Verbindung miteinander. Das Konkrete, die Elementarkräfte, das Lebendige, das Tag- und Nachtbewusstsein, und schließlich das Sein - Shepherd schleift in jedem Kapitel einen Stein zurecht. Wie der Facettenschliff, bei dem viele kleine glattpolierte Flächen das Licht brechen und so die Hauptfläche auf der Oberseite optimal zur Geltung bringen, so lassen die präzisen Beschreibungen der Einzelaspekte den Schwerpunkt erstrahlen.

 

Ein kleines Beispiel: das Heidekraut, aus dem Kapitel

"Die Pflanzen". Hier sind alle Blickwinkel vorhanden:

"Denn Heidekraut wächst in seiner üppigsten Pracht auf Granit, sodass in ihm die eigentliche Substanz des Berges enthalten ist. Von den drei Arten, die in diesen Bergen zu finden sind - zwei Erikas und die Besenheide - ist die im Juli blühende Graue Heide die am wenigsten schöne, obschon ihre Büschel in glühendem Rot wie strahlende Sonnen wirken, wenn das übrige Bergland noch braun ist. ...

Geht man hindurch unter heißer Sonne, am besten abseits eines Pfades, steigt der Duft in einer betörenden Wolke auf. ... Denn sobald die Füße die Blüten streifen, steigt der Pollen in einer Duftwolke auf. ... Weite Strecken durch die Heide jedoch betäuben den Körper. Genauso wie zu viel Weihrauch in Kirchen, lässt es die geschliffene Schneide der Verehrung stumpf werden, die, in der besten Form, Klarheit des Verstandes ebenso verlangt wie Aufwallung des Gefühls."

 

"Je mehr man über das komplexe Zusammenspiel von Bodenbeschaffenheit, Höhe, Wetter und dem lebenden Gewebe von Pflanzen und Insekten lernt,... an desto mehr Tiefe gewinnt das Geheimnis. Wissen vertreibt das Mysterium nicht."

 

Shepherd ist keine Mystikerin. Sie steht dem Buddhismus und dem Taoismus nahe, doch ich sehe in der oben zitierten Aussage eher eine große Achtung und großen Respekt vor der Natur. Man kann sehr viel entdecken, erkunden und erforschen, aber die Natur ist so vielfältig, dass man nie

alles wissen wird.

Die Wandernde zu allen Jahreszeiten, bei Tag und in der Nacht, die mit vielen Bergbewohnern und diversen Wissenschaftlern in Verbindung stand, kam dem Berg sehr nahe. Sie verbringt Zeit mit ihm, "wie mit einem guten Freund." Auch diesen wird man nie ganz ergründen, egal,

wie lange man ihn kennt.

 

Global gesehen lässt sich dieser Gedanke auf die Weltsicht übertragen:

"Solche Täuschungen, die davon abhängen, wo sich die Augen befinden und wie sie gebraucht werden, veranschaulichen die Tatsache, dass unser gewöhnlicher blick auf die Dinge nicht notwendigerweise richtig ist: Er ist nur eine Möglichkeit von unendlich vielen, und einen unvertrauten Blick zu erhaschen, und sei es nur für einen Moment, stellt uns von Grund auf infrage, aber gibt uns auch neue Sicherheit. Es ist eigenartig, aber belebend. Unmöglich, mit einer Welt abzuschließen, die sich so verhält, wenn ich mich bloß auf die Seite oder den Rücken drehe."

 

Dieser stete Rückbezug auf sich selbst, der keineswegs eine Nabelschau ist, sondern mitdenkt, dass der eigene Körper das Instrument ist, mit dem die Dichterin die Welt erfährt, macht dieses Buch so faszinierend. 

Keine hundert Seiten umfasst Shepherds Werk, doch es ist

so dicht, so voller Informationen, Schilderungen, Gedanken, dass der Eindruck eines sehr umfangreichen Werkes zurückbleibt. Eines, das man immer wieder lesen wird.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Nan Shepherd: Der lebende Berg

Übersetzt von Judith Zander

und mit einer Einführung von Robert Macfarlane

Matthes & Seitz Verlag, "Naturkunden", 2017, 184 Seiten

(Originalausgabe 1977)