Shumona Sinha - Kalkutta

Der Roman wird eingeleitet von einem kleinen "namenlosen" Kapitel - es trägt keine Überschrift. In diesem berichtet die Ich-Erzählerin, dass ihr Vater verstorben ist und sie deshalb nach Kalkutta zurückkehrt, in ihre Geburtsstadt. Seit vielen Jahren lebt sie in Paris, dort hatte sie weit weg von den Eltern ein Leben ohne deren Wut und ohne deren Erwartungen gesucht.

"Und sie hat den Frieden gesucht, wollte ihn kennenlernen, ihn verstehen und ihn in sich wachsen lassen, wie ein sanftes, ruhiges Licht."

Bei ihrer Ankunft in Kalkutta waren die Trauerfeierlich-keiten schon in Gang. Das Verbrennen des Leichnams empfindet sie als ein zweites Töten, das sie kaum ertragen kann.

 

Beschlossen wird der Roman ebenfalls von einem Kapitel in der Ich-Form, es ist überschrieben mit "Kalte Pflanzen."

Trisha wacht in ihrem Elternhaus auf, es ist unerträglich laut draußen. Ihre schweigende Mutter betritt das Zimmer, irgendwann fangen sie an zu reden.

"Je mehr ich rede, desto mehr scheint es mir, als schlichen wir um einen Brunnen, einen Brunnen aus Schwiegen, aus Abwesenheit, aus Vergessen. Die Mauer unserer Worte umgibt ihn und wird langsam höher und dicker. 

Gegen unseren Willen warten wir auf Vater. ...

Wir reden weiter, mühen uns weiter, warten weiter ..."

Sie warten vergebens, der Vater kommt nicht mehr zurück.

 

Innerhalb der Klammer dieser beiden Kapitel liegt die Geschichte, die von einer Erzählstimme geschildert wird.

Die von Trisha, dem Vater Shankhya, der Mutter Urmila und der Großmutter Annapura berichtet.

Denn die Rückkehr löst eine Kaskade an Erinnerungen in Trisha aus, die sie weit in die Geschichte der Familie und die des Landes führt.

 

Zuerst lernt der Leser den Vater kennen, er ist Professor an der Universität, er ist ein Anhänger des Fortschritts und führt zu Hause die Neuerung von Möbeln ein.

Er ist Kommunist, sein lederner Aktenkoffer, der Trisha vorkommt wie eine "Monsunkröte", die unter dem Bett hockt, verkörpert seine politische Tätigkeit.

Er ist einer der wenigen, der den Säuberungen der Kongresspartei entkommt, laut Sinha führt Indira Gandhi ein quasi faschistisches Regime in Westbengalen seit 1970.

 

Die Eltern heiraten 1973, Shankhya weiß, dass Urmila schwermütig ist. Sie ist eine beliebte Lehrerin, die aber immer wieder tief in Melancholie versinkt und Phasen hat,

in denen sie sich komplett von der Welt zurückzieht.

Dafür verachten ihre Eltern und Geschwister sie, sie halten sie für verrückt und ziehen sich eines Tages auch von ihrem Schwiegersohn zurück.

"Sie mussten an seinem Sockel sägen, den Helden zu Boden werfen. Die Anerkennung, die sie ihm schuldeten, weil er ihre verrückte Tochter geheiratet hatte, war ihnen zu einer unerträglichen Last geworden."

 

Der Vater ist aufs Engste verbunden mit seiner Mutter Annapurna. Sie ist früh Witwe geworden, bestand aber auf einem eigenständigen Leben und zog ihre Kinder alleine groß. Ihr Lieblingssohn ist Shankhya.

"Zwischen Shankhya und seiner Mutter bestand eine Art geheimer Pakt, ein Pakt der Aufopferung, der Krankheit,

des Todes. Sie wachten übereinander, sie wachten auch gemeinsam über den Tod, seit dem Beginn ihres Lebens, schon im Dorf, und nichts und niemand konnte diese Intimität stören."

 

Später kommt es zum Bruch als Annapurna der Religiosität verfällt - ein Phänomen der 90er Jahre, nach dem Zusammenbruch des Kommunismus. Endgültig brach er mit seiner Mutter, als diese der Enkelin Trisha von ihrer Mutter Ashanti erzählt hatte. Sie war die Geliebte eines Fürsten gewesen, hatte Annapruna im "Haus der Rosen", dem sogenannten Golap-Bari, empfangen, wo sie neben der Ehefrau des Fürsten lebte.

Dieses Familiengeheimnis hätte in Shankhyas Augen ein Geheimnis bleiben sollen.

 

Die Namen der vierzehn Kapitel sind gegenständlich, wie "Die rote Bettdecke" (zwischen diesen Decken versteckt der Vater seinen Revolver) oder "Der Riesenhibiskus" (mit dessen Öl wird die Mutter in depressiven Phasen eingerieben), oder sie sind bildlich-assoziativ, wie "Das Versenken der Göttin" oder "Kerzen, die von beiden Enden abbrennen."

 

Sinha geht den Weg vom Vater zur Mutter, über die politischen Aktivitäten des Vaters zur Großmutter, beschreibt dann das Verhältnis ihrer Eltern zur Großmutter. Darauf schiebt sie einen Teil über die Verhältnisse der 80er und 90er Jahre und den Kommunismus ein, um mit der mystischen Geschichte der Urgroßmutter und des Fürsten zu enden.

So zeichnet sie ein sehr eindrucksvolles, starkes Bild von einem fremden Land, in dessen Mittelpunkt die Familiengeschichte steht, die jedoch eingebettet ist in die Entwicklung Indiens bzw Westbengalens. 

Dort regierte die Kommunistische Partei demokratisch gewählt von 1977-2011 ununterbrochen, so lange wie sonst nirgends auf der Welt. Dann übernahmen "die Rechten" das Ruder (so Sinha). Sie spart auch die Spannungen, die zwischen den Religionen bestehen und immer gefährlicher werden, nicht aus.

Mit all dem führt sie deutlich vor Augen, wie zerrissen die größte Demokratie der Welt ist, wie weit weg von innerem Frieden.

 

Diesen suchte sie, die Autorin, wie auch die Protagonistin ihres Buches, in Europa.

 

Auf der fünften Seite des Romanes ist zu lesen:

"Die Macht der Worte kennt keine Grenzen, keine Schwachstelle, sie beherrscht die Dinge, die Tatsachen, unsere Vorstellungen und unsere Gefühle. Manchmal aber dienen Worte auch dazu, das Schwiegen hörbar zu machen, es einzufassen wie ein Mäuerchen einen Brunnen.

In diesem umgrenzten Raum wird das Schweigen unendlich, unermesslich."

 

Das obige Zitat, in dem ebenfalls der Brunnen aus Schweigen und die Mauer aus Worten vorkommt, stammt von der vorletzten Seite des Romans.

Beide also aus den zwei Teilen, in denen ein Ich erzählt.

 

Ist der Roman, die erzählte Geschichte, ein Versuch, aus diesem Schweigen auszubrechen und die Macht der Worte für Verständigung zu nutzen?

Ich denke, das ist der Autorin gelungen, zumindest eine Tür hat sie geöffnet, die einen Einblick hinter die Mauer aus Schweigen gewährt.

Mit ihrer zugleich präzisen und poetischen Sprache erfasst Sinha die vielen Verbindungslinien, die zwischen den Menschen ihrer Familie bestehen. Sie bricht das Schweigen und stellt sich damit in eine Linie zur Großmutter, die lieber den Pakt mit ihrem Sohn in Frage stellte, als einen Teil der Familien-Geschichte zu verheimlichen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Shumona Sinha: Kalkutta

Übersetzt von Lena Müller

Edition Nautilus, 2016, 192 Seiten

(Französische Originalausgabe 2014)