Susan Sontag - The Doors und Dostojewski

Der Journalist Jonathan Cott führte im Jahr 1978 einige lange Interviews mit Susan Sontag. Diese Gespräche kreisen nicht nur um Sontags Werk, sie berühren alle Themen, mit denen die große Schriftstellerin sich auseinandersetzte. Nach langer Zeit ist das Interview nun erstmals in voller Länge auf Deutsch erschienen, im Rolling-Stone wurden damals nur Auszüge veröffentlicht.

 

Das Buch ist zugleich eine sehr gute Einführung für

Noch-Nicht-Kenner von Sontags Werk, wie auch eine Zusammenführung ihrer Gedanken und Ansichten für all jene, die schon Bücher von ihr gelesen haben.

 

Cott führt die Schriftstellerin mit seinen Fragen durch die ganze Bandbreite ihres Denkens.

Das wichtige Werk "Krankheit als Metapher" - Sontag schrieb es nach ihrer Brustkrebserkrankung - bildet den Auftakt. Sontag erzählt, wie lebensnotwendig es für sie war, über den Begriff der Krankheit und seine Entwicklungsgeschichte nachzudenken, um mit der eigenen Erkrankung zurecht zu kommen. Sie schreibt damit auch gegen eine Tendenz der damaligen Zeit an, Krankheiten psychologisch zu deuten und den Patienten damit Schuldgefühle aufzuladen, anstatt sich auf die Heilung zu konzentrieren. Sontags Fragestellung ist nicht primär:

"Was erlebe ich?, sondern eher: Wie sieht die Welt kranker Menschen aus?"

 

Als Essayistin begegnet sie dem Problem auf einer allgemeinen Ebene. Sie schreibt keinen Erfahrungsbericht, aber sie schreibt über eine Sache, die sie am eigenen Leib durchgestanden hat, basierend auf historischen und soziologischen Daten. Und stellt fest, dass seit zwei Jahrhunderten dem Kranksein diverse moralische und spirituelle Werte zugeschrieben werden. Medizin und Psychologie sind in die Rolle der Religion geschlüpft und bieten dem Menschen einen Ersatz für selbige.

 

Die Art, wie Sontag hier arbeitet, zeigt ihre Herangehensweise: sie ist nicht bereit, eine vorgesetzte, bestehende Meinung zu akzeptieren. Sie macht sich auf in die Historie und versucht zu ergründen, wie die allgemeine Haltung zustande kam. Und ob sie nicht eher Ergebnis eines Prozesses ist als Naturgegeben, wie das gerne dargestellt wird. Nicht nur im Bereich der Krankheit, viel mehr noch bei allem, was mit der Rolle der Frau oder der Sexualität zu tun hat. Hierüber spricht Sontag genau so freimütig mit Cott wie über ihre Gewohnheit, völlig aus dem normalen Leben zu verschwinden, wenn sie an einem Buch arbeitet. Sie taucht ab in ihr Thema, in ihre andere Welt und vergisst ganz, dass sie auch noch einen Körper hat.

 

Sie liebt die Kompliziertheit, die sich auftut, wenn man tiefer in eine Fragestellung eindringt, immer komplexer und vielseitiger stellt sich ein Problem dann dar: es tut gut, solche Sätze zu lesen, ganz konsequent wirken sie der Tendenz zur Vereinfachung entgegen.

 

Um eines freien Denkens willen lehnt Sontag alle Dualismen ab. Wozu immer die Gegenüberstellungen und Abgrenzungen, wie Seele und Geist, Denken und Gefühl, Phantasie und Urteilskraft, Männlich und Weiblich, Jung und Alt, Hochkultur oder Populismus? Sie nimmt sich die Freiheit, The Doors zu hören und danach Dostojewski zu lesen. Beides mit Verstand und Gefühl, Denken und Intuition. Aus beiden kann sie Erkenntnisse gewinnen, oder einfacher: beide machen ihr Spaß. Die Lust am Denken ist genauso ein wesentliches Element des Lebens, wie die Sexualität. 

 

"Über Fotografie" schreibt sie nicht nur, weil sie sich gerne Fotos anschaut, sondern: 

"Mein Interesse, über Fotografie zu schreiben, wurde geweckt, als ich darin das Paradigma erkannte, in dem sich alle Verflechtungen und Widersprüche und Mehrdeutigkeiten dieser Gesellschaft widerspiegeln.

Um diese Mehrdeutigkeiten und Widersprüche und Verwicklungen geht es - das ist unsere Art zu denken."

 

Diese kleine Zitat verdeutlicht, dass Sontag bei allem, womit sie sich beschäftigt, auf der Suche nach dem Kern ist.

Dabei schreibt sie in einer verständlichen Form, es ist ein Genuss, ihre Bücher und Essays zu lesen, ihren Gedankengängen zu folgen - und sich dabei selbst zu hinterfragen. Denn dies führt sie ja auch vor: bis zu einem gewissen Grad kann man einem Schriftsteller oder Philosophen etc. folgen, es wäre aber fatal, in dieser Nachfolge zu verharren und nachzubeten. Sontag weckt das kritische Denken in Bezug auf alles Vorgesetzte und auf alles, was man selbst für richtig erachtet.

Sie schreibt, um über etwas nachzudenken, um sich zu verändern, sich von Überlegungen zu befreien und sich Neuem zuwenden zu können. Das beinhaltet auch, dass sie manchmal dem widerspricht, was sie Jahre zuvor gesagt hat und was Kritiker ihr dann vorwerfen.

Doch:

 

"...Es existiert eine unaufhaltsame Tendenz zur Vereinfachung. Für mich allerdings wäre es furchtbar, wenn ich das Gefühl hätte, mit allem übereinzustimmen, was ich bisher gesagt und geschrieben habe - das würde mich mehr als alles andere beunruhigen, denn es hieße, dass ich aufgehört hätte zu denken."

 

Mit dieser Aussage beschließt sie das Interview, das dem Leser eine große Denkerin menschlich sehr nahe bringt.

Vor zehn Jahren ist sie gestorben, Anlass, nun endlich dieses Zwiegespräch zwischen fragendem Journalisten und dieser Frau, an der sich immer wieder die Geister scheiden, ungekürzt zu veröffentlichen.

 

 

 

 

 

 

Susan Sontag: The Doors und Dostojewski

Das Rolling-Stone-Interview mit Jonathan Cott

Übersetzt von Georg Deggerich

Hoffmann und Campe Verlag, 2014, 160 Seiten

btb-Taschenbuch, 2016, 

(Geführt wurde das Interview im Jahr 1978)