Jean Stafford - Die Berglöwin

Ralph und Molly, zu Beginn zehn und acht, sind die Helden dieses in den 1920er Jahren spielenden Romans. Beide sind in keiner Hinsicht `gefällig´, sie sind völlig anders als ihre beiden älteren Schwestern Leah und Rachel, anders auch als die Mutter. In einer tiefen Verbundenheit, die zwischen Liebe und Hass schwankt, sind Ralph und Molly ineinander verstrickt - und doch verharrt ein jeder in seiner Einsamkeit.

Großartig realistisch, ohne Stereotypen, ohne den Versuch, Mitleid zu erwecken, beschreibt Jean Stafford die Welt der Geschwister, die zwischen dem konventionellen Lebensstil der Mutter und der Freiheit, aber auch Bedrohlichkeit einer Ranch in den Rocky Mountains, angesiedelt ist.

 

Der Roman beginnt in Kalifornien, wo die Witwe Rose Fawcett mit ihren vier Kindern lebt. Einmal jährlich kommt ihr Stiefvater zu Besuch, ein Mann, der eine völlig andere Lebensweise repräsentiert, und den nur die beiden jüngeren Kinder lieben. Mr. Kenyon ist Farmer, Besitzer mehrerer großen Ranches in Colorado. Konventionen sind ihm fremd, er spricht eine klare Sprache, verärgert seine Stieftochter eins ums andere Mal. Sie verschanzt sich hinter einer freundlichen Fassade, denn "sie wollte nicht, dass der schmuddelige, süffelnde alte Grobian auf den Gedanken käme, er sei nicht willkommen, auch wenn sie so wütend auf ihn war, dass sie hätte heulen können."

Seit der zweiten Hochzeit ihrer Mutter, die ihr diesen Stief-vater bescherte, hat sie unter seiner freien Art gelitten.

 

Am Abend seiner Ankunft erleidet der Großvater einen Schlaganfall, fünf Tage später stirbt er. Dieser Tod beraubt die Kinder ihres "Gottes". Aber: die Mutter gibt dem Drängen der Kinder nach und willigt ein, dass die beiden zu ihrem Onkel Claude, dem jüngsten Sohn des Großvaters, auf die Ranch fahren dürfen. Zwar entspricht auch Claude keineswegs ihren Anforderungen, er ist eine "bescheidene Ausgabe" des Großvaters, aber sie beruhigt sich selbst damit, dass eine "kultivierte" Haushälterin auf der Ranch "dabei sein würde. "

Mehrere Wochen im Jahr verbringen die Kinder ab sofort dort, als die Mutter mit Leah und Rachel auf Weltreise geht, bleiben sie ein ganzes Jahr.

 

Waren Ralph und Molly im Haus der Mutter noch natürliche Verbündete, verändert sich ihr Verhältnis auf der Ranch.

Ralph möchte von Claude wahrgenommen und akzeptiert werden, er lernt Reiten (das ist ein sehr ambivalentes Vergnügen für Ralph), er möchte ohne Molly mit ihm durch die Berge streifen. Er mag seine Schwester, sie ist ihm aber auch lästig und wird es immer mehr.

 

Molly fügt sich. Sie zieht sich zurück, verbringt viel Zeit alleine, ihre Freude am Schreiben entwickelt sich zu einer Manie. Sie war schon immer ein "unmögliches" Mädchen, hässlich, zugleich ängstlich und wagemutig, ein Kind, das sehr eigen ist, ehrlich und kompromisslos, das eine "Liste der Unverzeihlichen" führt, in die es eines Tages Ralph und in einer schmerzhaften Szene auch noch sich selbst einträgt. 

 

Bei einer Zugfahrt nach Colorado, jener, die dem einjährigen Aufenthalt vorausgeht, kommt es zu einer ungeheuren Begebenheit zwischen den Geschwistern. 

"Ralphs Kindheit und die seiner Schwester endete in dem Augenblick, als der Zug in das so verheißungsvolle Tal einfuhr. Das war ein Paradox, denn von nun an würden sie einen Tunnel ohne Ende vor sich haben, jetzt da sie den Teufel hatten sprechen hören."

 

Dieses Geschehnis treibt einen Keil zwischen die Kinder, paradoxerweise kettet es sie auch aneinander. 

Das Verhältnis wird nicht einfacher, als Ralph "das Verlan-gen, ganz in Onkel Claudes Welt einzutauchen, verloren hatte." Er entwickelt eine Konkurrenz zu seinem Onkel - hier betritt die Berglöwin die Szene.

 

Das seltene Tier evoziert starke Gefühle:

"Die Leidenschaft für Goldlöckchen überflutete Ralph wie eine Meereswelle, er war fest entschlossen, dass sie jedenfalls nicht aus dieser kalten Ruhe von Onkel Claude erlegt werden sollte, sondern aus seiner Liebe für ihr goldgelbes Fell."

 

Es beginnt fast eine Art Wettlauf, Jean Stafford treibt ihren Roman mit äußerster Finesse auf ein Ende zu, das nur dramatisch genannt werden kann.

Die letzten Seiten sind zugleich eine Essenz der Geschichte und noch einmal eine eigene Welt, einzigartig in ihrer Darstellung.

 

Jean Staffords Roman liegt nicht die Vorstellung von unschuldigen Kindern, die sich gegen die Erwachsenen verteidigen müssen, zugrunde. Auch nicht die Idee, dass Mädchen sensibler sind als Jungen oder andere Menschen besser verstehen.

Sie beschreibt alle Figuren aus der Handlung heraus, die Kinder werden nicht anders betrachtet als die Erwachsenen - sie verleiht ihnen eine Individualität und Würde, die Mitleid (als eine sich herabneigende Geste) ausschließen. 

Die große psychologische Spannung, die sie aufbaut, ergänzt sie durch Ironie, die, so Jean Stafford, "eine sehr hohe Form von Moralität" ist.

 

 

"The Mountain Lion", erschienen 1947, wurde sofort begeistert aufgenommen und machte Jean Stafford (1915-1974) zu einer der wichtigsten Schriftstellerinnen ihrer Zeit.

Die nun vorliegende Neuübersetzung bringt die Kunst-fertigkeit Staffords voll zur Geltung. Die knappen Sätze und der Verzicht auf große Gesten transportieren den schnörkel-losen Stil der Autorin sehr gekonnt ins Deutsche.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Jean Stafford: Die Berglöwin

Übersetzt von Adelheid und Jürgen Dormagen

Mit einem Nachwort von Jürgen Dormagen

Dörlemann Verlag, 2020, 352 Seiten

(Originalausgabe 1947)