Fabio Stassi - Die letzte Partie

José Raul Capablanca (1888-1942),

ein Wunderkind des Schachspieles,

das bereits mit zwölf Jahren den kubanischen Landesmeister besiegte, im Jahr 1921 Weltmeister und sechs Jahre später von seinem ehemaligen Freund Alexander Aljechin besiegt wurde - um diesen Mann dreht sich der Schachroman Stassis, der von weit mehr als dem Schachspiel handelt.

 

Stassi hat die Lebensdaten Capablancas, sowie Episoden, Begegnungen und Niederlagen (die sich nach dem ersten Schlaganfall 1936 häuften) aus dessen Biographie übernommen, ihn jedoch in eine Romanfigur mit einem eigenen Leben transformiert.

 

Er nimmt die Legende auf, der Weltklassespieler habe im Alter von vier Jahren alleine durch Zuschauen bei Spielen seines Vaters das Schachspiel erlernt. Capablanca wies später selbst darauf hin, dass diese Geschichte ins Reich der Phantasie gehört, aber sie ist eine gute Basis für einen Roman, der von der Besessenheit und Erfolgsverwöhntheit eines Mannes handelt, für den Schach kein Spiel, sondern das Leben ist.

 

Gegen den Willen der Eltern, vor allem der Mutter, geht der Junge immer wieder in den Schachclub, lernt, kombiniert, tritt bei Wettkämpfen an und arbeitet sich so sehr schnell nach oben. Sein unglaubliches Talent gepaart mit großer Ausdauer wird in der Presse gefeiert, als junger Mann steht er schon im Mittelpunkt internationaler Turniere. Man nennt ihn den "Mozart des Schachs", er ist ein "Liebling der Götter". Nachdem er ein Ingenieurstudium absolviert hat, weiß er endgültig, dass er sein Leben dem Spiel widmen will.

 

Bei einem dieser Turniere lernt er Alexander Aljechin kennen, einen Russen, der eine ganz andere Art von Schach spielt. Die beiden werden Freunde, bleiben trotzdem Rivalen. Nach dem Verlust des Weltmeistertitels ist Aljechin Capablancas erbittertster Feind, der bis zu seinem Lebensende einer erneuten Partie ausweicht und es Capablanca so verwehrt, den Titel zurück zu holen.

 

"Wäre Capablanca nicht auf die Welt gekommen, hätte Aljechin keinen Rivalen gehabt.... Er, mit seinen makellos manikürten Händen und dem Brillantineglanz im Haar.

Er mit seinem gradlinigen, genauen Spiel. In dem jede Figur einer Ordnung angehörte, eine Begründung hatte. Dem das Prinzip der Harmonie zugrunde lag. Gab es etwas Hassenswerteres, etwas Kraftloseres? Das genaue Gegenteil von Aljechins Spiel mit seiner ungeorneten und unbezähmbaren Kraft, dem Ansturm auf die Seite des gegnerischen Königs, den Überraschungsangriffen ... mit Manövern, die so getreu der unlogischen Gewalt seines Lebens entsprachen."


Aljechin eröffnet den Roman, der aus 64 Kapiteln besteht (genauso viele Felder hat ein Schachbrett)  mit seinem Todestag, dem 24.März 1946. Ein Hotelangestellte findet ihn in einem Sessel sitzend, eine Holzschatulle mit durcheinander gefallenen Figuren in den Händen.

Er ist der amtierende Weltmeister. An seinem Todestag hatte er noch Besuch von einem kleinen Jungen, der lächelnd das Hotel verließ. Wer dieser Junge war, erfährt der Leser im letzten Kapitel - dieses beendet die lebenslange Partie,

die Capablanca und Aljechin gegeneinander spielen.

Und er erfährt auch die Todesursache Aljechins.

 

Der Roman selbst ist aufgebaut wie ein Schachspiel.

Die einzelnen Kapitel gleichen Zügen, mal ist es das Vorrücken eines Bauern, mal der Sprung eines Pferdes, die rasche Bewegung des Läufers, dann wieder muss der Leser mit einer gewagten Rochade zurecht kommen - man muss sich einlassen auf eine Lebensgeschichte, die aus dem Rückblick des Protagonisten von einem übergeordneten, alleswissenden Erzähler berichtet wird. Von einem, der das ganze Feld überblickt und in den gespielten Partien die Persönlichkeiten der Spieler erkennt. 

 

Beide sind völlig besessen, sie agieren wie Künstler, die ein absolutes Werk erschaffen möchten, sie ringen mit den Gegnern, dem Publikum, sich selbst, sie entfalten konträre Spielweisen und sind doch wie zwei Seiten einer Medaille. Sie einigt die Leidenschaft für dieselbe Sache und die panische Angst vor der Niederlage. 

 

Und bei Capablanca kommt noch hinzu, dass er mit einer der sieben Todsünden fertig werden muss, die das Wunderkind trifft: dem Neid.

 

"Impulsivität, Mut, Angst, Fantasie, Neid ... alle diese Gefühlsregungen, die andere Kinder auf der Straße lernten, hatte er auf diese Weise erfahren, durch holzgeschnitzte Figuren. Allen voran Neid. Anfangs brachten ihm die Leute eine wohlwollende, manche auch eine begeisterte Neugierde entgegen. .. Je älter er wurde, mit umso mehr Verachtung begegneten sie ihm. Solange er Kind gewesen war, hatten die Leute seine Begabung als eine Laune der Natur betrachtet, ein Wunder. Eine Freude. Doch als er erwachsen war, empfand man seine Überlegenheit gegenüber jedem seiner Rivalen zusehends als anstößig. Manchmal versuchte er, sich einige der Partien zu erschweren, um sie länger dauern zu lassen, jedoch vergeblich. Stets endeten sie damit, dass er seine Gegner mit einem genialen Einfall überraschte, der allen den Atem raubte. So sehr er sich auch bemühte, fühlte er sich von einer Atmosphäre des Grolls umgeben und wusste, dass bald jemand kommen und sich diesen Hass zunutze machen würde. Aus Neid, aus purem Neid hatte sich Aljechin schließlich seinen Platz zu eigen gemacht. Und aus Neid fuhr er fort, ihn zu demütigen und den Tag der Abrechnung immer weiter hinauszuschieben. Damit er, Capablanca, auf immer und ewig für die Gunst seines Schicksals würde büßen müssen."

 

Für Capablanca ist klar, dass er derjenige ist, dem die Krone zusteht. Zu seiner Frau Olga sagt er:

"Hätte es mich nie gegeben, wäre er der größte Schachspieler aller Zeiten gewesen. ... Es ist schwer, sich damit abzufinden. So viel Talent zu haben und dennoch Zweiter zu sein. ... Deshalb trinkt er."

Er selbst, wohlgemerkt, ist der Zweite, Aljechin hat ihm den Titel abgenommen. Damit abfinden kann er sich nicht.

Und dann kommt der Junge ins Spiel, der wie ein Kobold durch die Zeit trollt...

 

Der Roman ist so klug und interessant komponiert, dass man kein Schachfan, nicht einmal Spieler sein muss, um eine große Freude an der Lektüre zu haben.

Die Figuren sind nicht schwarz-weiß gezeichnet, wie man es befürchten könnte, sie alle leiden an ihren Talenten und ringen mit den Versprechen, die das Schicksal ihnen gemacht hat. Die erste Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts bildet den Hintergrund des Romans, was ihm zusätzlich eine politische Dimension verleiht. 

Doch im Wesentlichen geht es um das menschliche Ringen, hier findet es auf dem Schachbrett statt.

 

 

 

 

 

 

 

Fabio Stassi: Die letzte Partie

Aus dem Italienischen von Monika Köpfer

Kein & Aber Verlag, 2009/2013, 240 Seiten

(Italienische Originalausgabe 2008)