Martin Suter - Montecristo

Martin Suter hat einen erstklassigen Kapitalismus-Thriller geschrieben -

diese Kategorie gibt es zwar nicht, aber weder Krimi noch Roman sind als Bezeichnung wirklich zutreffend.

Es geht ums Geld, um das ganz große Geld, um Tricks, Absprachen, Vertuschung und ganz zuletzt um die Moral.

 

Jonas Brand, ein Videojournalist, der diese Tätigkeit als Zwischenlösung sieht, sitzt im ICE von Zürich nach Basel.

In einem Tunnel bleibt der Zug plötzlich stehen, das Wort "Personenschaden" fällt. Brand filmt die Reisenden, unter denen viele Pendler sind, alle sind genervt über den Zwangsstopp, kaum ein  Wort des Mitleids für den Menschen, der aus dem Zug gesprungen ist. Die Leute wollen nach Hause und nicht stundenlang warten, bis der Schaden abgewickelt ist.

 

Kurz darauf legt Brand seiner Putzfrau Geld in das Haushaltsbüchlein, zwei Hunderter. Ganz zufällig schaut er sich die Scheine genauer an und stellt fest: die Seriennummer ist identisch. Also muss einer davon eine Fälschung sein.

Brand kann keinen Unterschied entdecken, er sucht seinen Kundenberater bei der Bank auf und zeigt diesem die Scheine. Beide sind echt, befindet dieser, auch wenn das theoretisch nicht sein kann.

 

Brand geht der Sache nach und besucht unter dem Vorwand, einen Beitrag für ein Lifestyle-Magazin drehen zu wollen, den Chef der Hochsicherheitsdruckerei, die die Banknoten gedruckt hat. Herr Dillier bestätigt unter sichtlichen Qualen, dass beide Scheine echt sind.

 

Brand informiert Max Gantmann, einen renommierten Wirtschaftsjournalisten, von der Sache. Dieser rät ihm, den Experten auf dem Gebiet der Numismatik aufzusuchen, was Brand umgehend macht. Dieser erkennt einen der beiden Scheine als Fälschung.

 

Mittlerweile wurde in Brands Wohnung eingebrochen.

Es fehlt nichts, aber alles wurde durchsucht.

Kurz darauf wird er auf der Straße zusammengeschlagen, Brands Freundin Marina holt die Polizei. Diese interessiert sich so wenig für diesen Vorfall wie für den Einbruch.

Eher wird Brand wie ein Querulant behandelt.

Ist das alles Zufall? Einen Zusammenhang sieht der Journalist zunächst nicht.

 

Was nun? Die Geschichte auf sich beruhen lassen? Irgendetwas stimmt nicht, so viel ist klar. Aber wenn es sich bei der Banknote um eine Fälschung handelt, ist Brands Story futsch - er hatte daran gedacht, ein Video darüber zu drehen, denn er fühlt sich in der "Boulevard"-Branche, so nennt es Gantmann, nicht wohl.

Lieber würde er investigativ arbeiten, sein Traum ist allerdings ein ganz anderer: er möchte als Regisseur einen Film drehen. Die Förderung wurde abgelehnt, unbekannter Regisseur, Idee nicht genug durchdacht etc. Der Name des geplanten Films: Montecristo. Eine Geschichte um Verrat und Rache in der modernen Welt des Geldes.

Aber dieser Traum liegt auf Eis, Brand hat keine Geldgeber gefunden.

 

Wieder schaut sich Brand das Video aus dem ICE an, er findet heraus, wer die Person war, die bei dem Vorfall starb.

Er nimmt Kontakt zur Witwe auf, die nicht an einen Selbstmord glaubt. Paolo Contini war ein erfolgreicher Trader an der Börse, der Star auf dem Trading Floor, einer der gerne Risiken einging, aber auch derjenige, der die höchsten Gewinne erzielte. Längere Zeit sei er sehr bedrückt gewesen, erzählt Barbara Contini, aber in der Woche vor seinem Tod wich die Anspannung, er schien wieder glücklich.

 

Neben Brand hat sich nun auch Gantmann seine Gedanken gemacht und Erkundigungen eingezogen. Er baut eine Theorie auf, die so ungeheuerlich ist, dass Brands Freundin von "Verschwörungstheorie" spricht.

 

Und dann passiert etwas, womit Jonas Brand gar nicht mehr gerechnet hatte. Er erhält einen Anruf von jenem Beamten, der für die Filmförderung zuständig ist: Montecristo soll nun doch finanziert werden. Unglaublich, aber wahr.

Damit ist Brand vollauf beschäftigt und arbeitet nicht mehr weiter an den Recherchen bezüglich Contini und Doppelnummerierung.

 

Er äußert zwar kurz den Gedanken, dass er mit dieser Regiearbeit von den Recherchen abgezogen werden soll,

aber ist das nicht absurd? Wie wären dann Banken, Bankenaufsicht, Kulturförderung, Verantwortliche in den Medien untereinander verbandelt oder verstrickt?

 

Brand fliegt nach Thailand, dort spielt ein Teil seines Films: ein Mann wird von Konkurrenten aus dem Verkehr gezogen, indem ihm Drogen ins Gepäck geschmuggelt werden.

Er wird verhaftet und sitzt nun in Thailand im Gefängnis.

Nur durch Zufall findet Brand nachts im Hotel in seiner Kameratasche ein Päckchen mit weißem Pulver, ein gutes Pfund, das würde für die Todesstrafe reichen. Kaum ins Klo gespült, stürmen auch schon vier Uniformierte sein Zimmer und durchsuchen es. Zu ihrer Enttäuschung finden sie nichts.

 

Er verlässt so schnell wie möglich das Land, um ein Haar wäre ihm das gleiche passiert, wie seinem Filmhelden.

 

Brand ist zwar manchmal etwas naiv und ohne die Hinweise von Gantmann wäre er mit seinen Recherchen nicht so weit gekommen, doch er weiß nun, dass er etwas gefunden hat, was für sehr hohe Kreise, deren Arme sehr weit reichen, sehr brisant ist.

 

Mehr soll jetzt hier nicht verraten werden, nur noch soviel: es wird über Leichen gegangen, die Verflechtungen sind dermaßen unglaublich, dass es wirklich nach Verschwörungstheorie klingt, aber sie sind nicht unwahrscheinlich. Die Fäden werden auf allerhöchster Ebene gezogen, sehr kultiviert bei  Austern und Champagner. 

 

Suter versteht es, immer wieder einen kleinen Hinweis zu geben, um den Leser in die Geschichte hineinzuziehen und sein kriminalistisches Vergnügen anzustacheln. Er versteht es aber auch sehr gut, aufzuzeigen, dass die Wahrheit aus sehr vielen einzelnen Mosaiksteinchen besteht, die richtig zusammengesetzt werden müssen, um zu begreifen, was vor sich geht. Und man es auch begreifen wollen muss.

 

Jonas Brand, der knapp vierzigjährige Journalist und Regisseur, hat nicht das Format eines Whistleblowers. 

 

Er stimmt am Ende einem sogenannten Verantwortungs-träger zu, der betont, "...dass es eine kritische Größe gibt, ab der man einen Skandal nicht mehr aufdecken darf. ...

Dieser Punkt ist dann erreicht, wenn dessen Enthüllung der Allgemeinheit mehr schadet als nützt. Und in unserem Fall ist er mehr als erreicht. Er ist weit überschritten. Haben Sie das noch nie erlebt, Herr Brand, dass die Wahrheit mehr schadet als die Lüge?"

Die Seifenblase, in der alle weiterleben, bleibt intakt, sie schwebt "dicht über der Wirklichkeit."

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Martin Suter: Montecristo

Diogenes Verlag, 2015, 320 Seiten

Diogenes Taschenbuch, 2016, 320 Seiten