Ekaterine Togonidze - Einsame Schwestern

Drei Stimmen erzählen diese Geschichte: die sechzehnjährigen Schwestern Lina und Diana in Form von Tagebucheinträgen, also aus der Ich-Perspektive, und ein Erzähler, 

der von Rostom, dem Vater der Mädchen, berichtet.

Jede Stimme hat ihre eigene Tonlage, zusammen ergeben sie einen tiefen Blick in die Untiefen des Menschen.

 

Die Zwillinge leben am Rand Tbilissis im Haus der Groß-

mutter. Der Garten grenzt an eine Müllkippe, es scheint also keine sogenannte gute Gegend zu sein. In diesem Garten steht ein Baum, der zweierlei Früchte trägt: auf der einen Seite wachsen Äpfel, auf der anderen Pfirsiche.

 

Er ist ein Sinnbild: Lina und Diana teilen sich einen Körper.

Bis zur Taille miteinander verbunden haben sie zwei Beine, zwei Arme - und zwei Köpfe. Lina ist "die links", muss also mit der linken Hand schreiben oder braucht für gewisse Tätigkeiten, wie schneiden, Dianas Hilfe.

 

Bilder aus Illustrierten oder Zeitungen auszuschneiden,

ist Linas Leidenschaft. 

Die Mädchen erleben die Welt ausschließlich über das, was die Großmutter via Papier oder Fernsehen ins Haus lässt.

Niemals verlassen Lina und Diana das Haus bzw den Garten. Die Großmutter versteckt die siamesischen Zwillinge und warnt sie eindringlich vor den Menschen draußen.

 

Der einzige Besucher ist Zaza, ein Verwandter, der einkaufen geht und die drei versorgt.

Einen Vater gibt es im Leben der Mädchen nicht, die Mutter ist tot. "Sie ist gestorben, noch bevor sie uns zu sehen bekommen hat. Auch Vater hat uns nie gesehen. Er lebt zwar noch, aber es läuft auf dasselbe hinaus.

Dem sind wir scheißegal. Nein, egal ist nicht das richtige Wort, er wünscht sich bestimmt, wir wären nie geboren!", schreibt Diana in ihr Tagebuch.

 

Der Vater ist Rostom. Ihn lernt man als ersten kennen, ihm ist der Auftakt des Romans gewidmet. Er ist Lehrer an einer Fachhochschule, er lebt alleine in einer zu großen Wohnung, spricht kräftig dem Alkohol zu  - und erhält gleich in der ersten Szene einen Brief von einem Krankenhaus, der mit dem Satz "Unser aufrichtiges Beileid" endet.

Er meint, es handle sich um eine Verwechslung, er hat keine Kinder.

 

Rostom hat seine Freundin Elene noch während ihrer Schwangerschaft verlassen. Er wollte nicht Vater werden, er konnte eine solche zwar hübsche aber nicht standesgemäße Frau seinen Eltern nicht zumuten. Niemals hat er erfahren, dass er Zwillinge, dass er "ein Monster", gezeugt hat.

Nun sind diese offensichtlich verstorben.

 

Der Roman entwickelt sich chronologisch gegenläufig: Rostoms Geschichte wird zurückblickend, so wie die Erinnerungen sich einstellen, erzählt. Während Rostom in der Gegenwart handelt, das heißt, vor allem versucht, der Vergangenheit zu entfliehen, lernt der Leser Rostoms Leben kennen. 

Die Geschichte von Linas und Dianas Leben erfährt man aus ihren Tagebüchern. Sie erzählen Tag für Tag, was passiert, was sie erfreut oder sorgt, wovon sie träumen.

Von März bis September gehen die Einträge, frisch und nicht aus der Erinnerung heraus, sind alle Gedanken notiert.

 

Die erste große Belastung, der die beiden ausgesetzt sind,

ist die Krankheit und Pflegebedürftigkeit der Großmutter.

Sie wird schwächer und schwächer, kann nicht mehr auf-stehen, die Mädchen pflegen sie nach Kräften, erfahren

trotz aller Schwierigkeiten eine Befriedigung in ihrem Tun.

Es ist sinnvoll und zeigt, dass sie Verantwortung über-nehmen können.

 

"Wie wichtig sind wir auf einmal geworden, Lina und ich! Jetzt hängt ein ganzes Menschenleben von uns ab!"

 

Vor allem Diana, die Ernstere, Überlegtere und sich Sorgende, vertraut ihrem Tagebuch an, wie sie ihre neue Rolle mit Stolz erfüllt.

Die Tagebücher sind für beide die Rettung. 

Ihnen vertrauen sie alles an, was ihnen durch den Kopf geht. Beide schreiben, verbergen es vor der anderen, verstecken die Bücher vor der Welt, beide bezeichnen sie als ihre "Lebensrettung". 

 

Diese Bücher bekommt Rostom am Ende ausgehändigt, aus ihnen erfährt er, wie seine Töchter lebten und was sie in den Tod trieb.

 

Dem Tod der Großmutter folgt ein Hochwasser.

Lina und Diana werden aus dem Haus gespült und irgendwo angeschwemmt. Nur knapp überleben sie diese Katastrophe und kommen in ein Krankenhaus.

Sie werden untersucht, gequält, nicht wie Menschen behandelt - die Welt draußen ist genau so grausam, wie die Großmutter es ihnen immer gesagt hatte.

 

Doch es kommt noch schlimmer: auf das Krankenhaus, in dem sie nicht auf Dauer bleiben können, folgt der Zirkus.

Sie werden abgeholt, in eine Kammer, die eher eine Kiste ist, gesperrt, man überlegt, was man mit diesem Kuriosum anfangen könnte.

 

Sie treten schwarz und weiß geschminkt als Yin und Yang auf. Als das nicht mehr reicht, das Publikum will immer etwas neues, müssen sie tanzen lernen. Es gelingt ihnen.

Sie kommen gut an, verdienen Geld, das sie sparen.

 

Vor allem Diana überlegt sich ständig, wie sie aus dem

Zirkus rauskommen könnten. Lina liegt daran nichts, denn sie ist in den Zauberer Sascha verliebt, dem sie lange und innige Briefe schreibt (die sie ihm aber nicht gibt) und Liebesgedichte. 

In Lina regt sich die sexuelle Lust, sie verwendet dafür das Symbol der "Mohnblumen", die sich in ihrem Bauch entfalten. Zufällig bekommt sie von Sascha einen Strauß solcher Blumen aus Papier geschenkt - für Lina eine Offenbarung. Sie gibt diese Blumen nicht mehr aus der Hand - Diana hat ganz andere Sorgen. 

 

Die Welt im Zirkus ist bunt, die Menschen gehen ganz unter-schiedlich mit den Zwillingen um. Doch die Ausbeutung des Direktors nimmt zu, bald müssen sie in einem Separee spärlich bekleidet vor einzelnen Männern tanzen...

 

Bis zu einem gewissen Grad lässt sich alles ertragen.

Es keimt sogar kurz Hoffnung auf, als unerwartet Zaza auftaucht, doch der ist nur an den Ersparnissen interessiert.

 

Lina und Diana werden am Ende Opfer eines Verrats, der die Grenzen des Erträglichen sprengt.

 

Einer der letzten Einträge in Dianas Tagebuch lautet:

"Erst jetzt verstehe ich, warum uns Großmutter immer vor anderen Menschen gewarnt hat ... Sie sind wirklich grausam. Warum haben sie uns das angetan?"

 

Diese Frage ist die Kernaussage des Romans: die eigentliche Katastrophe im Leben von Lina und Diana ist nicht ihre körperliche Statur, nicht die Tatsache, dass sie siamesische Zwillinge sind, die Katastrophe sind die Menschen.

 

 

In ihrem letzten Brief an Sascha schreibt Lina:

"Ich habe dir mein Herz geschenkt und meine Seele. Du hast mir deine Zaubertricks gezeigt. ... Den größten und furcht-barsten Zaubertrick aller Zeiten. Du bringst lebende Wesen um. Das ist die ganze Zauberei..."

 

In Sascha bündelt Ekaterina Togonidze die Grausamkeit der Menschen. Ein Freund hätte er sein sollen, einer, der die Menschen erfreut mit seinen Künsten - auch er handelt nur im eigenen Interesse.

 

Lina stirbt zuerst. "Ich habe auf meine Schwester nicht aufgepasst, ich habe sie nicht gerettet. Wenn ich aufhöre zu schreiben, bin ich tot. Das Schreiben hält mich am Leben.

Ich lebe doch noch, oder? Wie viel Zeit bleibt mir? ...

Wir haben gemeinsam das Leben geschenkt bekommen, nur im Tod sind wir getrennt. Lina ... Lina ..." 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Ekaterine Togonidze: Einsame Schwestern

Übersetzt von Nino Osepashvili und Eva Profousová

Septime Verlag, 2018, 180 Seiten

(Georgische Originalausgabe 2013)